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Ich sehe dich

Titel: Ich sehe dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Clark
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geben?«
    »Er sagt zu Jonas oft doofe Dinge über mich, so wie, ich sei eine schlechte Mutter … Oder eine Alkoholikerin, die ihr Kind vernachlässigt. Als Jonas noch kleiner war, hat er so einen Scheißspruch mal im Kindergarten wiederholt. Der wusste ja gar nicht, was er da sagt, und dann …«
    Ihre Stimme war dünner und dünner geworden, sie räusperte sich und hätte heulen können, vor Wut und Traurigkeit, noch heute, nach so vielen Jahren: »Ein paar Tage später klingelt es, zwei adrette Menschen stehen vor der Tür und sagen: Jugendamt. Wir kommen wegen gewisser Vorfälle. Vorfälle! Das ist doch … ich hab mich so … das kann ich gar nicht beschreiben, wie ich mich gefühlt hab. Und Ronnie? Was glaubst du, was der dazu gesagt hat? Echt unfassbar. Das musste ja so kommen. Dass wir wegen dir das Jugendamt im Haus haben. Wegen mir!«
    »Hast du denn ein Alkoholproblem?«
    Sara schüttelte den Kopf. »Nicht mehr als jeder, der mit Freunden mal am Abend ein Glas Wein trinkt.«
    »Ist es dann nicht die beste Lösung, wenn ihr euch trennt?«
    Schweigend nahm Sara ein grünes Blatt aus dem quadratischen Papierspender auf dem Schreibtisch und begann, es zu falten. Diagonal durch die Mitte, dann zurück, dann diagonal die andere Seite.
    »Du bist darin sehr geschickt.« Valeska deutete auf die Papierfigur, die in Sekundenschnelle zwischen ihren Fingern entstand. Sara zerknüllte den Papiervogel. Das Bauchziehen kam zurück.
    »Ich bin nicht so stark wie du«, sagte sie leise. »Ich weiß nicht, ob ich als alleinerziehende Mutter zurechtkommen würde. Das macht mir Angst.«
    »Natürlich kommst du allein zurecht. Warum solltest du es nicht schaffen?«
    Sara zuckte mit den Schultern. Die kaputte Papierfigur in ihrer Hand zitterte.
    »Irgendwann ist nichts mehr von dir übrig«, sagte Valeska eindringlich.
    »Ich komme mir vor wie jemand, der eine Tür aufgemacht hat, hinter der ein Albtraum wartet«, stöhnte Sara.
    »Wer hinter verschlossene Türen blickt, sollte keine Angst vor Albträumen haben.« Valeska stand auf. »Ich mache jetzt Tee. Die Telefonliste mit dem Taxistand hängt am Monitor. Am besten rufst du den an der Theresienhöhe an.«
    Mit energischen Schritten verließ sie das Büro. Sara ging um den Schreibtisch herum, nahm das Telefon und wählte die dritte Nummer der Telefonliste. Aus dem Hörer ertönte langgezogenes Tuten. Wenigstens ist nicht belegt, dachte Sara und sah vor ihrem inneren Auge das weiße Blinklicht der Taxirufsäule sternförmig leuchten, als plötzlich ein Schrei durch das Gebäude gellte.

45
    Adrenalin schoss durch ihre Adern. Das Telefon wie eine Waffe umklammert, stand Sara reglos hinter dem Schreibtisch und starrte auf die angelehnte Tür. Ihr Körper war wie gelähmt, gefangen in der Angst vor dem Ungewissen, das auf sie lauerte. Ihr Gehirn jedoch raste. Wer hatte geschrien? Valeska? Was war passiert?
    Angestrengt lauschte sie.
    Dann schlich sie auf Zehenspitzen durch das Büro, schob die Tür einen Spalt auf und scannte den Raum mit dem geschulten Blick einer Mutter, die es gewohnt ist, auf Spielplätzen nach ihrem Kind zu suchen. Er war leer. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie die Tür weiter öffnete und in den hell erleuchteten Saal trat.
    Jetzt vernahm sie heftige Atemgeräusche. Sie klangen abgehackt und keuchend. Valeska brauchte sie. Ohne weiter nachzudenken, rannte sie zur Kochnische.
    »Valeska!« Valeska lehnte leblos an der Wand, als wäre sie an ihr entlang heruntergerutscht, mit glasigem Blick, den Mund wie zu einem Kuss geformt, die Hände seltsam verkrampft neben den Oberschenkeln, die Beine leicht gespreizt. Mit einem Satz war Sara bei ihr und kniete sich neben sie. »Was ist passiert?«
    Saras Angst war wie weggeblasen. Sie spulte ihr antrainiertes Programm als Bergführerin ab, legte das Telefon neben sich, kontrollierte den Puls und suchte Valeskas Körper nach Zeichen einer Verletzung ab. »Kannst du mich hören? Hast du Asthma? Falls ja, gib mir ein Zeichen – nick mit dem Kopf oder beweg dein Bein oder deinen Arm.«
    Keine Reaktion. Nur kurzes, stoßartiges Keuchen. War da ein Pfeifen?
    »Okay. Versuch, deinen Mund leicht zu schließen. Ganz locker. Und dann musst du gegen deine Lippen atmen, so dass sich deine Backen aufblähen. Schau, so etwa.« Sie machte den Mund zu und atmete langsam dagegen, fühlte, wie ihre Backen sich nach außen wölbten. »Es ist ganz einfach.«
    Valeskas Lippen blieben geschürzt.
    »Okay. Ich hole deinen Inhalator.

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