Ich sehe dich
das Vorderhaus.« Petra kam zurück. In der Hand hielt sie eine rote Schnur, an der ein Schlüssel baumelte. »Durch die Toilette kommt man direkt in den Hausflur.« Sie ließ den Schlüssel hin und her baumeln. »Der war in der Tür, jemand hat sie aufgesperrt.«
Das betretene Schweigen wurde plötzlich durch das Zufallen der schweren Eingangstür unterbrochen. Wie auf Kommando eilten sie in den Vorraum.
»Valeska?« Marie rief laut ihren Namen. Die Hoffnung hing für einen Moment wie ein zarter Lichtstreif im Raum. Selbst Ingrid schien ihn zu bemerken, denn sie erhob sich von ihrem Stuhl und kam herangeschlurft. Eine vermummte Frau kam auf sie zu. Als sie die Gruppe erreicht hatte, nahm sie den schwarzen Schal von ihrem Gesicht. Sara erkannte die Frau, die jetzt schüchtern in die Runde lächelte. Sie hatte sie interviewt, allein, weil Tini nicht wie verabredet erschienen war, an dem Tag, als alles begonnen hatte.
»Ich spät. Habe warten auf Christina, aber nicht kommt. Letzte Woche nicht kommt auch.« Edina lächelte schüchtern in die Runde, bis sie Sara bemerkte. Sofort erstarb das Lächeln. Sie machte einen Schritt auf sie zu. »Wo Christina? Was los mit deine Schwester?«
Sara spürte die Augen der anderen auf sich. Stechend. Fragend. Argwöhnisch.
»Schwester?« Es war Petra, die als Erste sprach.
»Ihr nicht wissen das?« Edina warf Sara einen unsicheren Blick zu. »Warum du machen Geheimnis? Wegen Arbeit für Zeitung?«
»Christinas Schwester?«, fragte Suphie erstaunt. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«
Marie baute sich vor Sara auf. »Zeitung? Ein Schmierfink?«
Sie bohrte einen Finger unsanft in ihre Schulter. »So ist das also! Horchst uns aus! Verbreitest Lügen im Forum …«
Sie stupste Sara erneut an. »Was kriegst du für deine Schmierereien?«
»Marie, es reicht.« Petra streckte ihren Arm vor, die Hand aufgerichtet.
»Ich hab noch nicht mal angefangen!« Wieder schnellte Maries Arm nach vorne, schubste Sara, diesmal heftiger.
»Ich habe gesagt, es reicht!« Petra trat zwischen sie. Sie wandte sich an Sara, ohne eine Spur Freundlichkeit, das Gesicht eine steinerne Maske. »Ich denke, du solltest jetzt gehen. Ich entziehe dir das Vertrauen der Gruppe.«
Sara nickte. Sie fühlte sich leer, im Zeitraffer lief die letzte Stunde an ihr vorbei, der Unfall, Valeskas Verschwinden, die Angst um Jonas, Königs Verdächtigungen, das geballte Misstrauen der Frauen. Sie hatte es verbockt. Sie hatte das gemacht, was Ronnie ihr prophezeit hatte: Sie hatte die Situation verschlimmert.
»Es tut mir leid, ich wollte euer Vertrauen nicht missbrauchen.«
Sie löste sich aus der Gruppe und ging schwerfällig zum Büro zurück. Hinter sich hörte sie die Frauen hitzig diskutieren. Immer wieder schnappte sie ihren und Tinis Namen auf, auch Valeskas, doch den Sinn der Worte konnte sie nicht erfassen. An der Türschwelle zum Büro läutete ihr Handy. Sie rannte zu ihrem Mantel und riss es aus der Tasche.
»Valeska?«
»Sara, was geht hier vor?« Ronnies Stimme überschlug sich fast. »Du rufst umsonst den Rettungswagen? Weißt du, wie peinlich das für mich ist? Ganz zu schweigen davon, dass die Polizei dich sucht. Und was hattest du bei dem Seitz in der Wohnung zu suchen? Und wo zum Teufel steckst du?«
49
»Sara? Ich habe dich etwas gefragt.«
»Ich bin … Ich bin bei der Frauengruppe.«
»Bei den Verrückten? Das bist du nicht, oder?«
Im Saal erklang lautes Stühlerücken. Sara hielt das Handy in die Richtung.
»Du bist wirklich dort. Ich fasse es nicht … Ausgerechnet! Nach deinem peinlichen Auftritt bei der Psychotante fällt dir nichts Besseres ein, als ausgerechnet dorthin zu gehen?«
Sara seufzte innerlich. Wenn das Gespräch so anfing, hatte es eigentlich keinen Sinn, es überhaupt fortzuführen. Egal, was sie sagen würde, es würde nur eskalieren.
»Sag bloß, du hast in deiner grenzenlosen Unverantwortlichkeit Jonas dorthin mitgenommen?«
»Der ist bei Mama, also reg dich ab, ja? «
»Und was ist das überhaupt für eine Geschichte? Du rufst die Rettung? Spinnst du?«
Sie hörte, wie er etwas auf den Tisch schüttete. Viele, kleine Gegenstände. Leerte er gerade ihre Handtasche aus? »Valeska hat hyperventiliert und war dann plötzlich weg. Ich dachte –«
»Deswegen rufst du einen Krankenwagen? Als Arztfrau? Bist du nicht mehr ganz dicht?«
»Ich dachte, sie hätte eine Asthma-Attacke.«
Anstatt einer Antwort ertönte ein schabendes Geräusch, dann ein leises
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