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Ich sehe dich

Titel: Ich sehe dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Clark
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…«
    »Du konntest mich nicht hören.« Lydia umklammerte den Schlüssel in ihrer Jackentasche. »Er hat alles isoliert. Komm mit!«
    Melanie folgte Lydia zögerlich in den Aufzug. Sie schwiegen. Die Spannung in der kleinen Kabine wurde von Stockwerk zu Stockwerk größer.
    Vor der Wohnung zog Lydia den Schlüssel aus der Tasche. Ihre Hand zitterte so sehr, dass sie mehrere Versuche brauchte, um den Schlüssel ins Schloss zu stecken. In ihren Schläfen spürte sie jeden ihrer rasenden Pulsschläge.
    Dann öffnete sie die Tür. Vorsichtig, als verberge sich ein Raubtier dahinter. Der scharfe Geruch nach Essigessenz und Ammoniak traf sie unvorbereitet. Sofort kam das Brausen. Stolpernd taumelte sie zwei Schritte zurück, trat auf Melanies Fuß.
    »Was ist los? Du bist kalkweiß!«, rief Melanie. Lydia hielt sich mit einer Hand an ihr fest und riss mit der anderen eine Tüte aus der Jackentasche. Die Tüte vor dem Mund atmete sie tief ein und aus. Ein paar Mal reichten. Das Brausen verschwand.
    »Geht schon …«
    Gemeinsam traten sie ein. Tür, Decke und die Wände, die an Flur und Nachbarwohnung grenzten, waren überzogen mit Tausenden kleinen grauen Schaumstoffpyramiden.
    »Oh Gott.« Melanie schlug die Hände vor den Mund. Lydia wunderte sich, wie ruhig sie plötzlich war. Sie stand in der Wohnung, die ihre Albträume beherrschte, und atmete gleichmäßig. Als sei es ein Film, den sie im Kino gesehen hatte, erzählte sie Melanie von dem Tag, an dem ihre Gefangenschaft begann.
    »Oh Gott«, ächzte Melanie zum zweiten Mal. »Direkt unter unseren Augen. Und ich habe nichts gehört. Hätte ich doch nur auf mein Gefühl gehört. Ich hatte nie verstanden, dass du einfach weggehst, ohne mir eine Nachricht zu hinterlassen. Aber … Elf Monate. Und niemand hat etwas gesehen oder gehört.«
    »Niemand.«
    »Aber warum kommst du zurück? Hast du denn keine Angst?« Der Gedanke, dass Carlo auftauchen könnte, schien Melanie zu erschrecken.
    »Ich muss mich meinen Albträumen stellen. Die sind hier«, log Lydia und wusste zugleich, dass sie die Wahrheit sagte.
    »Und wenn er kommt? Was dann? Soll ich bei dir bleiben?« Melanie berührte eine der Schaumstoffpyramiden und zog die Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt.
    »Nein.« Lydia lächelte sie an. »Geh ruhig. Ich ruf dich an. Und wenn nicht, dann weißt du, wo du mich suchen musst.«

67
    Wie immer ließ sich die Haustür einfach aufdrücken. Trotzdem läutete Sara, bevor sie das Haus betrat. Die erste Stiege nahm sie noch zügig, doch dann verlangsamte sie ihren Schritt. Was machte sie hier? Sie war verheiratet! Man warf doch nicht fast neun Jahre Ehe einfach weg! Für was? Eine flüchtige Affäre? Eine Liebelei? Mit einem Mann, den sie kaum kannte, der wahrscheinlich selbst noch mitten in einer unverarbeiteten Trennungsgeschichte steckte. Gestern erst hatte Ronnie sie zur Eheberatung begleitet. Er verdiente eine Chance, allein schon, weil er Jonas’ Vater war. Was also machte sie hier? Unangemeldet. Als seien sie ein festes Paar, wo keiner den anderen störte und man einfach mal am Vormittag vorbeikam. Auch er hatte gestern viel Wein getrunken. Auch er war in einer seltsamen Stimmung gewesen. Vielleicht hatte er es sich ja anders überlegt. Heute früh, beim ersten Kaffee. Vielleicht dachte er schon den ganzen Morgen panisch darüber nach, wie er es ihr beibringen sollte, vielleicht würde er Tini als Ausrede nutzen, dass er nicht mit der Schwester einer Mandantin … Oder Ronnie, dass sie erst einmal alles mit ihm klarmachen sollte, bevor … Vielleicht sollte sie einfach umdrehen und ihn nachher anrufen, von zu Hause aus, ganz unverbindlich. So tun, als sei nichts gewesen.
    Sie blieb stehen. Fünf Stufen trennten sie von seiner Wohnungstür. Sie konnte die Treppe hinuntersteigen und ihren Weg fortsetzen. Das peinliche Wiedersehen jetzt vermeiden. Wenn sie Glück hatte, war er gar nicht da.
    Eine Wohnungstür öffnete sich. Sie hörte Schritte. Seine Schritte. Ihr brach der Schweiß aus.
    »Sara? Warum kommst du nicht hoch? Geht’s dir nicht gut?« Seine Stimme klang besorgt. Er kam die Treppe herunter. Nahm sie in den Arm, küsste sie aufs Haar. »Guten Morgen, meine Schöne. Ich habe dich beim Aufwachen vermisst …«
    Bei seiner Berührung fielen all ihre Bedenken in sich zusammen. Wie gut sich seine Nähe anfühlte.
    Gemeinsam stiegen sie die letzten Stufen hoch und betraten die Wohnung.
    »Ich musste Jonas seinen Turnbeutel bringen.«
    Er nahm ihren Mantel

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