Ich sehe dich
Dokument.
Die Schuld, die ich auf mich geladen habe, wird immer unerträglicher. In klaren Momenten, wie jetzt, weiß ich, dass mein Handeln falsch ist, dass diese Menschen nicht hätten sterben müssen. Doch diese Momente sind immer seltener. Und meine Opfer wurden immer mehr. Sven, mein Mann, Paul, Heiner, Sara. Ich kann es nicht mehr kontrollieren. Ich kann so nicht mehr leben. Ich hoffe, man wird mir vergeben.
Lydia Schwartz
Sara? Mit zitternden Händen nestelte sie ihr Handy aus der Jackentasche und suchte Saras Nummer. Nach dreimaligem Läuten erklang eine monotone Frauenstimme. »Die Rufnummer ist derzeit –«
Lydia ließ das Telefon sinken und starrte auf die Buchstaben, die vor ihren Augen einen seltsamen Tanz aufführten und dann zu einem schwarzen Nebel verschwommen.
Paul Denk. Heiner Grossmann.
Er?
Warum?
Sven hatte er aus Eifersucht erstochen und es ihr angehängt. Das war nicht weiter schwer gewesen. Ihre Fingerabdrücke auf die Mordwaffe zu bekommen, ihren Schal mit Blutflecken von Sven zu besudeln, ihre Haare auf seinem Pullover zu drapieren.
Aber Paul und Heiner?
Sara?
Warum? Was haben die mit ihm zu tun? Du musst herausfinden, was er als Nächstes vorhat.
Sie öffnete den Outlook-Kalender. Die Monatsansicht erschien. Als Erstes fielen ihr die rot markierten Einträge auf. Dienstag 19.00 Uhr, Frauenwehr. Lydia wechselte zum Vormonat. Jeder Dienstag war rot markiert.
Er war dort gewesen. Seit Wochen. Sie spürte die Panik, die unaufhaltsam in ihr aufstieg und langsam zu dem verhassten Brausen anschwoll. Blitzschnell setzte sie die Tüte an den Mund. Mit der freien Hand navigierte sie zum Dezember zurück und überflog die anderen Einträge. Dann stockte sie. Ein farbiger Balken zog sich über die letzten drei Dezemberwochen.
Urlaub stand darauf. Es dauerte einige Sekunden, bis die Bedeutung des Wortes zu ihr durchdrang.
Dann sprang sie auf, der Puls dröhnte in ihren Ohren. Doch es war zu spät. Entsetzt hörte sie, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde.
70
Sara nahm das Handy von der Heizung, setzte den Akku ein und schaltete es an. Das Display blieb schwarz. Sie rieb es an ihrer Jeans, prüfte es noch einmal und legte es schließlich zurück auf die Heizung.
Sie goss sich eine Tasse Tee auf und ging in ihr Arbeitszimmer. Dort blieb sie vor dem großen Foto vom letzten Italienurlaub stehen. Wollte sie das wirklich wegwerfen? Jonas würde ihr nie verzeihen, wenn wegen ihr die Familie zerbrach. Sie dachte an Michaels Kuss und spürte wieder die Hitze und das Prickeln durch ihren Körper wandern. Nein, jetzt nicht!
Sie setzte sich wieder an den Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. Als Erstes öffnete sie ihr Postfach. Werbemails, die sie ungelesen löschte, und eine Nachricht von Michael. Sie klickte aufgeregt die Nachricht an.
Liebe Sara,
ich hoffe, du checkst deine Mail, bevor wir uns treffen, denn ich kann dich auf deinem Handy nicht erreichen. Mein Gerichtstermin müsste bereits gegen drei beendet sein. Ich dachte, wir könnten uns früher treffen und vor dem Termin beim König gemeinsam dein Vorgehen mit Ronnie besprechen. Wenn du ihn heute Abend konfrontieren willst, wäre es, denke ich, hilfreich, wenn du deine Rechte und Pflichten kennst. Natürlich nur, wenn du willst. Ich will dich nicht drängen.Ich bin spätestens um halb vier im Café am Rathaus. Ich freue mich auf dich.
Liebe Grüße
Michael
Sara schluckte … heute Abend konfrontieren willst … Ja. Sie wollte. Und sie wollte auch nicht. Die Mail erschreckte sie. Sie fühlte sich unter Zugzwang und spürte, dass sie noch nicht bereit war für diesen Schritt. Die letzten Tage waren viel zu chaotisch gewesen. Am besten, sie käme erst einmal zur Ruhe, bevor sie eine Entscheidung traf. Für sich. Für sich und Jonas. Unbeeinflusst von ihrem Verlangen nach Michael, seiner Berührung, der Geborgenheit, die sie bei ihm fühlte. Entschlossen klickte sie auf Antworten.
Lieber Michael,
wir können uns gerne früher treffen, aber heute über Ronnie zu sprechen, halte ich für verfrüht. Lass uns erst eine Sache abschließen und Tini aus der Haft holen. Dann sehen wir weiter. Ich komme zwischen drei und halb vier ins Café am Rathaus. Um zwei treffe ich den Schlangenmenschen am Ostbahnhof, du weißt schon, der, von dem ich dir erzählt habe. Da gehe ich zwar alleine hin, aber der Typ hat nichts mit dem Fall zu tun, und Peter hat seine Kontaktdaten. Falls es dich beruhigt, kannst du mich ja
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