Ich sehe dich
nie länger als eine Stunde, und er wich nie von seinen Gewohnheiten ab. Das machte ihn berechenbar, im Gegensatz zu ihr selbst. Für ihn wäre es ungleich schwieriger, sich in ein neues Umfeld einzugewöhnen, die überschaubare Kleinstadt Fürstenfeldbruck gegen eine hektische Großstadt zu tauschen, oder nur innerhalb von Fürstenfeldbruck in eine andere Wohnung zu ziehen. Er wusste, dass sie anders tickte, dass sie am liebsten eine möglichst große Distanz zwischen sich und den Ort brachte, an dem sie sich nicht mehr wohlfühlte. Sie war sich sicher, dass er sie nach diesem Prinzip gesucht hatte. Angefangen mit den weit entfernten Großstädten, nicht ahnend, dass sie nur fünfundzwanzig Kilometer entfernt ein neues Leben begonnen hatte. Wie musste er sich geärgert haben, als er ihren wahren Aufenthaltsort entdeckt hatte.
Die Kapuze des Sweatshirts tief ins Gesicht gezogen, kam Lydia aus ihrem Versteck hervor, überquerte den Innenhof der riesigen Wohnanlage und öffnete hastig das mit buntem Graffiti besprühte Häuschen für die Mülltonnen. Sie sah sich kurz um und verschwand in dem Holzschuppen. Neben den überfüllten Tonnen stapelten sich Mülltüten. Sie zwängte sich durch die schmale Ritze zwischen zwei der grauen Tonnen, lehnte sich dahinter an die Wand und zählte die freiliegenden Deckenbalken. Unter dem fünften stieg sie auf die Tonne und tastete über das Holz. Sie spürte Dreck und Staub unter ihren Fingern, sonst nichts. Enttäuscht stieg sie herunter und versuchte, sich genau zu erinnern. Sie zählte noch einmal fünf Balken ab, diesmal von der anderen Seite, und stieg auf die Tonne darunter. Sofort ertastete sie die Kontur des Schlüssels.
»Gotcha!«, stieß sie triumphierend aus, löste vorsichtig das Klebeband und nahm zwei Schlüssel in die Hand. Nachdem sie den Schmutz von sechs Jahren abgewischt hatte, steckte sie beide in ihre Jackentasche und verließ den Schuppen. Wie gut, dass sie damals Vorsorge getroffen hatte, für den Fall, dass sie sich einmal ausschließen sollte. Kurz schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass er das Schloss ausgewechselt haben könnte, doch dann verwarf sie den Gedanken wieder. Warum sollte er? Er wusste nichts von dem Reserveschlüssel. Und er würde nie damit rechnen, dass sie freiwillig den Ort betrat, der ihre schlimmsten Albträume nährte.
Der Weg zur Haustür maß etwa zwanzig Meter, doch Lydia erschien er viel zu kurz. Sie verlangsamte ihren Schritt, als könne sie dadurch Zeit gewinnen, ihr Vorhaben hinauszögern, das Unausweichliche vermeiden, doch sie wusste genau, dass sie nicht mehr zurückkonnte, dass es ihre einzige, ihre letzte Chance war, ihr Leben zu retten. Schließlich hatte sie die Haustür erreicht. Zögerlich steckte sie den größeren Schlüssel ins Schloss. Noch konnte sie umkehren, zurück in die Sicherheit des Frauenhauses.
Und dann?
Sie drehte ihn nach links. Vernahm das Klicken des Schlosses, spürte, wie die Tür nachgab und sich nach innen öffnete. Sie trat ein. Der Specksteinboden glänzte, als sei er gerade gewienert worden. Am Treppenaufgang hing das Schild Achtung frisch geputzt. Sie hörte das Knallen, wenn der Schrubber links und rechts an den Rändern der Holzstufen anstieß, begleitet vom Ächzen der Hausmeisterin. An ihr durfte sie nicht vorbei. Sonst wusste morgen das ganze Haus, dass sie hier gewesen war. Sie ging zum Lift, der sich gerade dem Erdgeschoß näherte. Die Tür öffnete sich. Eine Frau kam heraus, nickte ihr kurz zu und verschwand im Flur.
Die Lifttüren schlossen sich gerade hinter Lydia, als jemand ihren Namen rief. Entsetzt sah Lydia, wie ein Fuß sich zwischen die fast geschlossenen Türen quetschte. Glühende Hitze breitete sich in ihrem Körper aus. Ihr Herz raste. Die Türen wichen langsam zurück.
»Lydia?« Die Frau von eben starrte sie ungläubig an. »Bist du das wirklich?«
»Melanie.« Lydia betonte jede Silbe des Namens ihrer ehemaligen Freundin, langsam und ruhig, obwohl sie innerlich schrie. »Ich habe dich fast nicht erkannt. Die kurzen Haare … Die sind gefärbt, oder?«
»Mensch! Lydia! Das gibt’s ja nicht! Was machst du denn hier?« Melanies Stimme bebte vor Aufregung. Sie streckte ihre Hand aus, um Lydia zu berühren, als wollte sie sich vergewissern, dass sie wirklich vor ihr stand.
»Ich besuche … Carlo.« Lydia hoffte, dass Melanie ihre zitternden Hände nicht bemerkte. Es war das erste Mal, dass sie seinen Namen ausgesprochen hatte. Das erste Mal nach fünf
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