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Ich sehe dich

Titel: Ich sehe dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Clark
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Schlüssel. Selbst im Dunkeln würde man jetzt erst über den Stuhl fallen und auf den Zettel aufmerksam werden.
    In der Küche ging sie zum Tisch, klaubte die Schnipsel des zerrissenen Fotos von der glatten Oberfläche und steckte sie in ihre Handtasche. Dann verließ sie die Wohnung.
    Als sie die Tür absperrte, bemerkte sie, dass ihre Hand zitterte. Michael hatte Recht gehabt mit seiner Vermutung. Valeska war eine kaltblütige Mörderin. Sie legte den Schlüssel unter die Matte und lief den Gang entlang. Auf dem Weg durchs Treppenhaus holte sie die Karte von Kommissar König aus der Manteltasche und tippte seine Nummer in Jonas’ Handy.
    »König«, bellte er heiser.
    »Sara Neuberg.«
    »Frau Neuberg.« Er klang überrascht. »Haben Sie von Frau Liebig gehört?«
    »Nein, aber ich wollte Ihnen mitteilen, dass die schwarze Mamba in Frau Liebigs Wohnung ist. Haben Sie etwas zum Schreiben? Westendstraße 34b, erster Stock, letzte Tür rechts. Sie sollten sie abholen lassen. Sie ist in einem nicht gesicherten Terrarium.« Sie hörte, wie er mitschrieb.
    »Die schwarze Mamba? Was machen Sie in Frau Liebigs Wohnung?« Königs Stimme überschlug sich fast. »Ist Frau Liebig auch dort?«
    »Nein.«
    »Wie sind Sie dann in die Wohnung gekommen?« Der lauernde Unterton, der ihr schon in Michaels Wohnung unangenehm aufgestoßen war, hatte sich wieder in seine Stimme geschlichen.
    »Der Schlüssel liegt unter der Matte.« Das war die Wahrheit. Zumindest jetzt.
    »Und Sie sind sich sicher? Eine schwarze Schlange?«
    »Hellgrau.«
    »Dann ist es nicht die, die wir suchen.« Sie konnte seine Enttäuschung hören.
    »Schwarze Mambas sind grau. Schwarz ist nur der Rachen.«
    »Aha …«
    Sara biss sich auf die Lippe. So verdreht, wie der Kripomensch dachte, würde ihm sicher wieder etwas einfallen, um diese Informationen gegen sie auszulegen.
    »Und wo sind Sie jetzt?« Königs autoritärer Ton ärgerte sie. »Sind Sie noch in dem Haus? Ich möchte, dass sie dort bleiben, bis ich komme.«
    »Hallo? Herr König? Sind Sie noch da?« Sie schüttelte das Telefon und rieb es an ihrer Jeans. Sie wollte König nicht sehen. Nicht allein. Nicht ohne Michael an ihrer Seite. »Hallo? Herr König? Hallo? «
    Dann schaltete sie das Handy aus und beschleunigte ihren Schritt.

65
    Der Putzlappen quietschte über die blankgewienerte Tischplatte. Er hatte noch immer keine Spur von Lydia. Sie war nicht in ihre Wohnung zurückgekehrt. Die halbe Nacht hatte er auf sie gewartet, auf dem Küchenstuhl, im Flur, wie damals …
    Du hättest die Tür geöffnet. Wärst eingetreten und hättest den Riegel vorgelegt. Dann erst hättest du das Licht angemacht, so wie immer. Bis du mich gesehen hättest, wäre es zu spät gewesen. Für dich.
    Erst im Morgengrauen hatte er den Stuhl wieder in die Küche geräumt und ihre Wohnung verlassen, rechtzeitig vor den ersten Frühaufstehern, um ungesehen aus dem Haus zu gelangen. Er verstärkte den Druck auf den Lappen und polierte mit aller Kraft das glänzende Furnier.
    Er brachte seine Augen näher an die Platte und untersuchte den Fleck, der seinem Schrubben standhielt. Ein Kratzer.
    »Scheiße!« Er schlug mit der Faust so fest auf die Tischplatte, dass sie vibrierte. Hektisch wischte er über den Kratzer, als wolle er mit dem Putzlappen das fehlende Material wieder einfügen.
    Der Tisch musste makellos sein. Alles musste makellos sein. Wer das Schandmal in sich trug, musste um sich herum für Reinheit sorgen. Seine Mutter hatte den Anblick von Schmutz nicht ertragen. Schmutz, der sie an den Makel erinnerte, mit dem er geboren worden war, der sie beschmutzen würde, solange er lebte.
    Ich hole eine Tischdecke.
    Und dann hole ich dich, Sara. Und dann …
    Er packte seine Jacke und verließ den muffigen Souterrainraum. Die Zigarette brannte, bevor er die letzte Stufe der Kellertreppe erreicht hatte.

66
    Die Kälte kroch ihr langsam in den Daunenanorak. Lydia schickte ein stilles Dankeschön an die Leiterin des Frauenhauses, die ihn ihr zusammen mit den gefütterten Stiefeln heute früh aufgedrängt hatte. Sie rieb sich die Hände, versuchte, sie mit ihrem Atem zu wärmen, und steckte sie dann wieder in die Ärmel. Er war jetzt seit gut einer Stunde unterwegs. Sie sah auf die Uhr. Fünf nach halb zehn. Er musste zur Arbeit gegangen sein. Vom Einkaufen wäre er inzwischen zurückgekommen. Mit Tüten beladen oder eine Zigarette rauchend, mehrere Zeitschriften in der Hand vom Schreibwarenladen an der Ecke. Er brauchte

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