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Ich sehe was, was du nicht siehst

Ich sehe was, was du nicht siehst

Titel: Ich sehe was, was du nicht siehst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Diaz
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loszureißen. »Warum fragst du mich das?«
    Sie warf die Hände in die Luft. »Warum wohl? Du scheinst dich ja prima mit deiner Familie zu verstehen. Und du wirkst so, als würdest du dich unglaublich auf diesen Besuch freuen. Wie komme ich da nur auf die Idee, dass du gegen einen von ihnen etwas haben könntest?«
    Seine Mundwinkel zuckten, doch es wurde kein Lächeln daraus. Stattdessen griff er nach ihrer Hand und ging weg vom Teich auf die Bäume zu, die links vom Haus standen.
    Sie musste neben ihm herjoggen, um mit seinen langen Beinen Schritt halten zu können. »Wohin gehen wir?«
    »In den Wald.«
    »Schon klar, das sehe ich selbst.
Warum
gehen wir in den Wald?«
    »Weil ich dir ein paar Dinge erklären muss, ehe du meine Familie kennenlernst.«
    »In Ordnung. Warum hast du das nicht auf der Fahrt hierher erledigt?«
    Er antwortete nicht. Stattdessen marschierte er mit solchen Riesenschritten weiter, dass sie gezwungen war, hinter ihm herzulaufen. Er ließ sie erst los, als sie endlich die Bäume erreicht hatten und damit außer Sichtweite des Hauses waren.
    Sofort ließ sie sich auf einen umgestürzten Baumstamm sinken und holte ein paarmal tief Luft, um ihr stark klopfendes Herz zu beruhigen.
    Er musterte sie stirnrunzelnd. »Warum atmest du so schwer?«
    »Möglicherweise … weil ich gerade … einen halben Kilometer gerannt bin?« Sie atmete noch ein paarmal tief durch. »Meine Beine … sind nicht … annähernd so lang wie deine … falls dir das noch nicht aufgefallen ist.«
    Er wurde rot. »Tut mir leid. Ich habe nicht nachgedacht.« Er setzte sich neben sie auf den umgestürzten Baumstamm. »Als ich den Transporter sah, da kamen ein paar … schmerzhafte Erinnerungen wieder hoch.«
    Als er nichts weiter sagte, verschränkte sie die Arme vor der Brust und wickelte ihre Jacke fester um sich. Die Sonne war dabei unterzugehen, und ihre Wärme drang nicht bis in die tiefen Schatten der Kiefern und Eichen vor.
    Er rückte näher an sie heran, legte seinen Arm um ihre Schulter und drückte sie an sich.
    Dankbar schmiegte sie sich an ihn, ihr wurde bereits wärmer. »Danke.«
    »Gern geschehen.« Seine Stimme klang seltsam belegt.
    »Also, du wolltest mit mir reden.« Sie versuchte verzweifelt, nicht darüber nachzudenken, wie gut und richtig es sich anfühlte, von ihm gehalten zu werden.
    Er atmete hörbar aus. »Dieses Haus ist eine Art Familienstützpunkt, hier versammeln wir uns alle einmal die Woche und in den Ferien.«
    »Wem gehört das Haus?«
    »Es gehörte meiner Mutter, es wird seit Generationen weitervererbt. Jetzt gehört es Alex.«
    »Dann ist deine Mutter, sie ist … tot?« Der Gedanke daran, dass er so wie sie ihren Vater seine Mutter verloren haben könnte, tat ihr weh. Sie drückte seine Hand.
    Er drehte die Hand herum, und ihre Finger verschränkten sich. »In gewisser Weise stimmt das. Sie hat uns verlassen, als ich gerade die Highschool beendete. Sie sagte, sie langweile sich, und brannte mit einem Jüngeren durch. Die Scheidungspapiere ließ sie Alex durch einen Anwalt zustellen. Sie wollte nichts außer ihrer Freiheit. Sie hatte auch kein Interesse an dem Sorgerecht für ihre Kinder. Im Gegenteil, sie war mehr als froh darüber, die Verantwortung auf Alex abwälzen zu können, sogar die für Austin und Matt, die zu der Zeit noch sehr klein waren. Die beiden sind als einzige Alex’ biologische Kinder, dennoch hat er uns alle aufgezogen, als wären wir sein Fleisch und Blut.«
    Madison blieb das Herz stehen. Oh Gott. Seine Mutter hatte ihre Kinder verlassen – hatte Pierce verlassen – und eine ähnliche Ausrede für ihr Verhalten gehabt wie Madison, als sie sich von ihm getrennt hatte: nämlich, dass sie gelangweilt wäre und einen neuen Anfang wollte. Plötzlich fühlte sie sich wie der letzte Abschaum. »Es tut mir so leid«, flüsterte sie.
    Pierce drückte sie fester an sich. »Ist schon in Ordnung. Diese Erfahrung hat uns alle näher zusammenrücken lassen. Als meine Mutter uns verließ, wurde Alex zu dem Bindemittel, das dafür sorgte, dass wir zusammenhielten, und daran hat sich seitdem nichts geändert.«
    Sie öffnete den Mund, um ihn zu korrigieren, um ihm zu sagen, dass sie sich für ihr eigenes Verhalten hatte entschuldigen wollen und nicht das seiner Mutter. Doch dann entschied sie, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war. Hier ging es nicht um sie. Es ging um ihn und um das, weswegen er sie in dieses Wäldchen geführt hatte. »Sprich weiter«, ermutigte sie ihn.

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