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Ich sehe was, was du nicht siehst

Ich sehe was, was du nicht siehst

Titel: Ich sehe was, was du nicht siehst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Diaz
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»Was wolltest du mir noch sagen?«
    Er rieb mit der Hand über ihre Jackenärmel, um sie zu wärmen. Unwillkürlich wünschte sie, er würde stattdessen ihre nackte Haut streicheln.
    »Wir Geschwister haben nicht alle dieselbe Mutter und denselben Vater. Das macht es ein bisschen … kompliziert. Dennoch sind wir Brüder, egal, wessen Blut durch unsere Adern fließt.« Er musterte sie aufmerksam, als warte er darauf, dass sie ihm zustimmte.
    Sie nickte und fragte sich, warum er glaubte, ihr eine Erklärung über seine Familienverhältnisse schuldig zu sein. War das der Grund, warum er sie hierhergeführt hatte? Um ihr den Familienstammbaum zu erläutern?
    »Alex lebt meistens allein hier draußen. Und wenn Austin nicht irgendwo in Behandlung ist, lebt er auch hier.«
    »Behandlung?«
    »Austin leidet unter einer neurologischen Störung, die Ähnlichkeit mit Muskeldystrophie hat, aber nicht genau dasselbe ist. Diese Erkrankung ist ziemlich … unberechenbar, eine von diesen seltenen Krankheiten, die so selten auftreten, dass man kaum etwas über sie weiß.« Seine Kiefermuskeln spannten sich. »Jedes Mal, wenn Alex von einem neuen Medikament oder einer neuen Studie hört, meldet er Austin dort an. In nicht allzu ferner Zukunft, wahrscheinlich eher früher als später, wird Austin sich weigern, an weiteren Studien teilzunehmen. Alex verhält sich wie eine Glucke.«
    Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Ich wollte gar nicht so lange auf diesem Thema herumreiten. Aber ich möchte auch nicht, dass du total überrascht bist, wenn du sie kennenlernst. Ich wollte dich vorbereiten.«
    »Es tut mir so leid. Man merkt, dass er dir sehr viel bedeutet, dass deine ganze Familie dir viel bedeutet. Ich hätte mir das Herumsticheln verkneifen sollen.«
    Er verzog schmerzlich das Gesicht, als er den Arm zurückzog, den er ihr um die Schultern gelegt hatte.
    Sie erhob sich vom Baumstamm. »Sind es die Rippen? Habe ich dir wehgetan?« Sie streckte die Hand aus, um seine Jacke beiseitezuschieben, damit sie sehen konnte, ob er wieder blutete.
    Er griff nach ihrer Hand und stand ebenfalls auf. »Meinen Rippen geht es gut.«
    »Aber warum …«
    »Auch wenn es vielleicht nicht danach aussieht, meine Familie und ich stehen uns sehr nah.«
    Sie ahnte bereits, dass es ihr nicht gefallen würde, was er ihr zu sagen hatte. »Bei mir ist es genauso. Oder zumindest stehen mein Bruder und ich uns nah. Mit meiner Mutter ist es eine andere Geschichte«, scherzte sie in dem Versuch, ihm ein Lächeln zu entlocken. Doch er sah sie nicht einmal an.
    Kein gutes Zeichen.
    Sie schlang sich die Arme um den Körper, sie spürte die Kälte jetzt viel deutlicher, da sie nicht mehr an seinen warmen Körper geschmiegt dasaß. »Sprich weiter«, drängte sie ihn, »sonst verwandle ich mich hier draußen noch in ein Eis am Stiel.«
    »Hör auf zu scherzen«, sagte er. »Ich muss dir was sagen.«
    Sie machte keine Scherze. Ihr war wirklich kalt. Doch nach seinen düster zusammengezogenen Augenbrauen zu urteilen, interessierte er sich gerade nicht dafür. Geduldig beobachtete sie ihn.
    »Braedon war deshalb so aufgebracht über die Schießerei, weil wir keine Geheimnisse voreinander haben«, sagte er, und sein Körper versteifte sich, als würde er mit Empörung rechnen.
    War ihr irgendetwas Wichtiges entgangen? »Keine Geheimnisse. Okay, ich hab’s verstanden. Was willst du mir damit sagen?«
    Er seufzte schwer. »Vielleicht erinnerst du dich daran, wie wir damals meine Familie besuchen wollten, damals, als wir noch zusammen waren? Wir wollten zusammen nach Savannah fahren, aber dann kam mir etwas auf der Arbeit dazwischen, und wir mussten das Treffen absagen.«
    Es war das Wochenende gewesen, bevor sie ihn verlassen hatte. Sie erinnerte sich lebhaft daran, denn damals war ihr auch klar geworden, wie ernst es ihm war. Sie wusste, dass er nicht der Typ war, der einfach so jemanden dazu einlud, seine Familie kennenzulernen – in der Hinsicht waren sie sich ähnlich.
    »Ich erinnere mich daran«, sagte sie ruhig.
    »Das war das Wochenende, bevor …«
    »Ich weiß.« Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Stelle, wo die Bäume sich lichteten. Je länger die Unterhaltung sich hinzog, desto unbehaglicher war ihr zumute. Und das lag nicht nur an der Kälte.
    »Ein paar Wochen später bin ich allein nach Savannah gefahren.«
    Als sie begriff, was das bedeutete, tat ihr Magen vor Schreck einen Sprung. »Soll das heißen, sie wissen von uns? Wissen … wie

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