Ich träume deutsch
sofort auf zu streiten.
Immer wenn Anne anfing zu weinen, bekamen wir große Angst, dass sie wieder ihre Wurzeln verlor und in die Klinik |149| musste. Manchmal vergaß sie ihre Tabletten zu nehmen, dann konnte sie nicht einschlafen und musste weinen.
Ablam und ich gingen zu ihr, umarmten sie und versprachen ihr, uns nie wieder zu streiten.
„Yavrum, es ist nicht wegen euch, ich bin auch nicht traurig, sondern glücklich!“
Das sah zwar gar nicht nach Glück aus, aber irgendwie waren wir erleichtert. Anne erzählte uns, dass wir am Wochenende Besuch bekommen würden, der aber aus einem ganz bestimmten Grund käme. Diese Menschen würden im Namen Allahs kommen und um die Hand von Mine anhalten. Ich stand da wie die Statue von Atatürk und konnte es gar nicht glauben. Meine Schwester war vierzehn Jahre alt und bekam ihren ersten Heiratsantrag? Sie hatte zwar schon einen großen Busen und Haare unter den Achseln, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendein Mensch auf dieser Welt meine Schwester heiraten wollte. Mine war doch immer so gemein und dumm.
„Anne, muss ich heiraten?“
„Yavrum, du bist doch noch ein Kind, aber wir müssen diese Menschen trotzdem empfangen. Es werden noch viele an unsere Tür klopfen, denn aus Töchtern werden Bräute. Aber wir würden euch nie zu einer Heirat zwingen“, versprach Anne. Sie war sehr stolz auf meine Schwester und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
Mine sah mich ganz seltsam an. Sie nahm ihr Lipgloss mit Erdbeergeschmack aus der Tasche und schmierte sich eklig dick ihre dicken Lippen ein. Danach zog sie ihre Mundwinkel zusammen und folgte Anne in die Küche.
Annem und Mine putzten tagelang unsere Wohnung. Türen und Fenster wurden auf Hochglanz gebracht, und Mine hatte ständig so ein dummes Grinsen im Gesicht.
|150| Wir saßen alle im Wohnzimmer, als würden wir unser heiliges Ramadanfest feiern. Mine hatte ein neues Kleid bekommen, und ich musste zum Friseur, weil Anne meine Locken nicht mehr durchkämmen konnte.
Baba sah Ablam nicht mehr in die Augen, er schüttelte immer wieder den Kopf und versuchte sein Grinsen zu verbergen.
„Wann ist meine Watte-Tochter groß geworden? Wo ist nur die Zeit geblieben, Allahım?“ Dann hob er die Hände zu Allah und zündete sich eine Zigarette an.
Ein bisschen eifersüchtig war ich schon, weil sich alles nur noch um Mine drehte, und Baba immer wieder sagte, wie stolz er auf Mine sei.
„Aus meiner Tochter könnte also eine Braut werden!“ Dabei versuchte er sein Lächeln zu unterdrücken.
Aus mir würde nie eine Braut werden. Schließlich war ich erst zehn Jahre alt und hatte noch nicht mal richtige Brüste. Außerdem wollte ich ja sowieso Yalcin heiraten.
Wer um die Hand meiner Schwester anhielt, wusste ich immer noch nicht, aber das war mir auch egal!
„Es ist einer von der türkischen Schule“, hatte mir Mine ins Ohr geflüstert.
Seit zwei Monaten gab es bei uns an der Schule einen türkischen Lehrer. Den hatte der türkische Staat extra wegen uns nach Deutschland geschickt. Ein Mal in der Woche durfte Duman Öğretmen, Lehrer Duman, uns in der deutschen Schule unterrichten. Es gab nur eine Klasse. Duman Öğretmen war sehr streng und sagte gleich am ersten Tag, dass ihn die deutschen Gesetze nicht interessierten. Wenn einer nicht folgte, dann würde er ihm die Ohren ausreißen. Das hatte er zwar noch nie gemacht, aber er hatte einigen Jungen so fest |151| an den Ohren gezogen, dass ihnen vor Schmerz die Tränen gekommen waren.
Plötzlich klingelte es an der Tür. Die Anwärter waren endlich da. Anne sprang auf, öffnete aber nicht gleich. Sie wartete darauf, dass es noch einmal klingelte, denn sonst hätte es so ausgesehen, als hätten wir sehnlichst auf die Anwärter von Mine gewartet. Wenn das auch stimmte, so durften wir uns das doch nicht anmerken lassen.
Ich traute meinen Augen nicht. Es waren die Eltern von Özcan. Özcan ging mit uns in den türkischen Unterricht und war der älteste, aber auch der lustigste Junge in der Klasse. Sein älterer Bruder, seine Tante und sein Onkel standen mit Blumen und Pralinen hinter den Eltern von Özcan. Er war schon sechzehn Jahre alt und bekam fast jede Woche von Duman Öğretmen eine Ohrfeige. Duman Öğretmen zog seine Ohren hoch, bis er nur noch auf Zehenspitzen stehen konnte und bevor Özcan wieder festen Boden unter den Füßen verspürte, wurden ihm zwei Ohrfeigen rechts und links verpasst. Ich konnte es gar nicht fassen! Özcan wollte meine
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