Ich träume deutsch
ihnen gehen würde.
|143| „Ağlama yavrum, ağlama, üc gün kaldi bayrama, weine nicht mein Kind, es sind nur noch drei Tage bis Bayram“, sang Annem und wischte mir die Tränen vom Gesicht.
„Anne, das hat Babaanne auch immer gesungen, wenn wir traurig waren, obwohl es noch sehr lange bis Bayram war.“
Annem nickte nur und streichelte über meine Haare.
„Das hat mir meine Anne auch immer vorgesungen“, sagte sie.
Annem versprach mir, nicht zu sterben, und sie wollte auch ganz schnell wieder bei uns sein.
Plötzlich stand ein Mann neben uns und fragte Anne, ob alles in Ordnung sei. Danach schaute er mich an, setzte sich zu uns und fragte mich, ob ich geweint hätte. Ich nickte und sah auf den Boden.
„Ich bin der Doktor von deiner Mama“, sagte er, „und wer bist du?“
„Nilgün“, antwortete ich.
„Nüglin, das ist aber ein schöner Name.“
„Nilgün, ich heiße nicht Nüglin.“
Der Doktor lachte und entschuldigte sich bei mir. Es war ein netter Doktor mit einer kleinen Brille auf der Nase.
„Willst du ein Eis essen?“ Eigentlich wollte ich schon, aber ich hatte Angst, dass meine Anne weg sein würde, bis ich wiederkäme.
„Anne, wartest du hier auf mich?“
„Evet, Yavrum, wo soll ich denn hin?“
„Schwöre!“
„Vallaha, billaha“, schwor Anne und ich war mir nun sicher, dass meine Anne nicht weggehen würde.
Ich durfte mir ein ganz großes Eis aussuchen.
„Du warst traurig wegen deiner Mama?“
|144| Ich nickte nur. Meine Zunge wollte nichts sagen.
Der Doktor wollte wissen, ob mein Papa nett zu uns war und ob ich ihn lieb hätte.
Da schmeckte mir das Eis nicht mehr. Ich fing wieder an zu weinen, weil ich wusste, dass Anne nicht mit uns nach Hause gehen durfte.
Ich war wütend und warf das Eis einfach auf den Boden. Aber dann schämte ich mich und verbarg mein Gesicht in meinen Händen.
Der Doktor setzte sich mit mir auf die Wiese und erklärte mir, warum Annem noch nicht mit uns nach Hause durfte.
Er sagte, dass jeder Mensch wie ein Baum sei und Wurzeln habe, und dass ein Baum ohne Wurzeln eingehen würde und keine Früchte tragen könne. Anne habe ihre Wurzeln in der Türkei gelassen und deshalb sei sie krank geworden. Die Früchte eines Menschen seien die Fröhlichkeit und sein Lachen. Da hatte der Doktor recht.
Anne hatte so lange keine Früchte getragen, sie hatte immer so oft weinen müssen.
Meine Anneanne, Onkel, Tanten und all unsere Verwandten und die Heimat seien die Wurzeln von Annem, sagte der Doktor.
„Gibst du meiner Anne die Wurzeln wieder?“
Der Doktor schüttelte den Kopf.
„Das wird mir nicht gelingen, aber wir werden ihr Medizin geben, damit sie nicht mehr so oft weinen muss“, sagte er.
Der Doktor versprach mir, Annem ganz schnell nach Hause zu schicken. Trotzdem hätte ich meine Anne am liebsten gleich mitgenommen. Auf dem Heimweg erzählte ich Baba von dem Gespräch mit dem netten Doktor, und dass Anne so krank sei, weil sie ihre Wurzeln verloren hatte. Baba schwieg und drückte meine Schwester und mich an sich.
|145| Der Doktor hielt sein Versprechen nicht. Annem musste noch ganz lange in der Klinik bleiben, und jedes Mal fiel mir der Abschied von ihr so schwer. Ich glaube, dass ich auch nur noch wenig Früchte trug. Wir erlebten zwei Jahreszeiten ohne meine Anne.
Bittere Träume
Samstags gingen unsere Eltern immer auf den Wochenmarkt, meine Schwester und ich deckten währenddessen den Tisch, und dann gab es ein köstliches Frühstück.
Eines Samstags fiel mir beim Frühstück plötzlich mein Traum aus der vergangenen Nacht ein und ich erzählte, wie ich auf einem Zwiebelhaufen gesessen und ganz viele Zwiebeln geschält hatte und dabei fürchterlich weinen musste. Anne sah Baba an und deutete meinen Zwiebeltraum als ein schlechtes Zeichen.
„Zwiebeln sind bitter. Allah möge uns vor bitteren Nachrichten schützen“, sagte sie.
Annem glaubte an Träume und konnte jeden Traum deuten. Einmal hatte sie von einer weißen Taube geträumt und war überzeugt, dass wir entweder eine gute Nachricht oder Geld bekommen würden. Drei Tage später saßen wir wie jeden Samstag vor dem Fernseher und verfolgten die Lottoziehung. Wir hatten vier Richtige und meine Anne hatte recht gehabt!
Wir wurden zwar nicht reich, aber es hatte zu einem „Hammel“ gereicht.
Annem räumte den Frühstückstisch ab, als es plötzlich an der Tür klingelte.
|146| Der Briefträger übergab Baba ein Telegramm.
Baba öffnete es und sein Blick wurde ganz
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