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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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klarkommen. Ich reagiere, aber es ist, als würde ich in ein leeres Zimmer sprechen. Als müsste ich zunächst durch das lange, leere Zimmer gehen, bevor ich meine Hand ausstrecken und die Antwort berühren kann. Ich sage zum Beispiel: »Wir haben Hoffnung.« Alle Nachrichten, die ich von ihm bekomme, erreichen mich über lange Entfernungen: telefonisch von meiner Tante und meinem Onkel in Massachusetts, vermittelt über meine Eltern, dann zu mir. Mein Haar sieht aus wie Gras, verknotet, als wäre ich oft unter Wasser.
    Der Wissenschaftler musste sich selbst töten, als er Godzilla tötete. Er tat das binnen weniger Sekunden. Godzilla, dessen radioaktiver Atem dich durch eine winzige Berührung verändern konnte, deine DNA . Ich weiß noch nicht viel über Leukämie, aber ich weiß, dass die Krankheit von etwas in der Umwelt verursacht wird, das die DNA verändern kann. Ich weiß, dass Radioaktivität die DNA verletzen kann. Und ich frage mich, was Tommys Zellen so verändert hat, dass er krank geworden ist. Was hat seine Chromosomen verletzt? Ich rufe mir jede Röntgenaufnahme in den Sinn, die bei mir wegen gebrochener Knochen oder Lungenproblemen gemacht worden ist. Ich hoffe, es ist nicht meine Berührung, die ihn vergiftet hat. Im März 1982 kann ich nichts anderes tun, als mich selbst zu vergiften.

Das Pfefferminzbonbon-Buch
    Manchmal erscheint mir die Zukunft im Traum. Oder ich mache nachts eine Zeitreise nach vorn. Ich weiß nicht, wie das geht. In einer Nacht im Jahr 1989 gehe ich ins Morgen und stehe mit einem Mädchen auf der Treppe im Winter-Park-Naturkostladen. Ihr langes blondes Haar zwischen ihren Schulterblättern. Ich stehe mit dem Gesicht zu ihr, kann aber ihr Gesicht nicht sehen. Außerhalb des Traums arbeite ich seit sechs Jahren in diesem Geschäft und in dem Laden im alten Kern von Orlando. Der Laden, das Restaurant und das Lager sind unten. Von der Stelle oben am Treppenabsatz kann man auf alles hinunterblicken. Oben sind die Toiletten, und rechts ist ein verglastes Büro, wo Mrs. Collins, eine frühere Schönheitskönigin, die unglaublich dick geworden ist, unter einer weißgoldenen Krone aus ihrem zu einem Zopf geflochtenen und zu einem Turm gewundenen Haar sitzt. Aus dieser Höhe blickt sie nicht nur hinunter in das Lager und den ganzen Laden, sondern auch auf die Kunden, die durch die Glastür hereinkommen. Ihr Busen ist so ausladend, dass er als Ablage für kleine Figürchen dienen könnte. Wenn sie meinen Namen sagt, macht sie aus dem ersten kurzen »e« ein »a«, das sie in die Länge zieht: »Kaaa-Lee«. In meinem Traum sehe ich, dass sie nicht da ist, der Glaskasten ist leer. Es muss Wochenende sein. Das Mädchen auf der Treppe zieht das Knie an und verdreht das Bein, um mir eine Verletzung an der Fußsohle zu zeigen, das Blut. Ich helfe ihr zum Toilettenraum, ich erinnere mich nicht an Wasser und Seife, nur an ihr Haar, den blutigen Fuß, dass ich ihr helfe und an die Stelle, wo wir stehen.
    Am nächsten Tag kommt John herein, der Koch. John, der mir Hirse mit Kartoffelbrei machte, was ich am liebsten aß, der für mich da war, als jemand, den ich liebte, starb, der schweigend ein Auge auf mich hielt, vorn am Bestelltisch. John, der mir einmal dreihundert Dollar gab, damit ich zu einer Beerdigung fliegen konnte. Seine Mutter, die Bäckerin, sagte, es sei Johns Geld, John sagte, es sei ihres. Deshalb hätten sie beschlossen, sagte Lola, es mir zu geben. Am Tag nach dem Traum kommt John in den Laden, seine langen Haare, sonst immer zusammengebunden, liegen lose zwischen seinen Schulterblättern. Er war beim Surfen. Er hebt den Fuß und zeigt mir die Verletzung an der Fußsohle, das Blut.
    Meine Sehfähigkeit in Träumen oder bei Nachtfahrten ist gut, aber ich weiß nicht immer, was ich da sehe. Wie ein Blinder, dem das Sehen plötzlich ermöglicht wird. Die Welt ist klar zu sehen, aber ich weiß keine Wörter dafür. Evelyn in dem Laden in der Stadt hat seherische Fähigkeiten. Ich erzählte Evelyn, dass ich mich als Kind in ein Buch mit Lifesaver-Pefferminz verwandeln konnte, in eine Bibliothek von Bonbonrollen, und dass ich mich sehr groß und wieder sehr klein machen konnte, wie ein Akkordeon. Die Ausdehnung war beängstigend und aufregend, auf dem Rücken im Bett liegend oder auf dem Fußboden, das Gefühl, dass ich runterfallen würde und mich wieder einholen musste, bevor ich zerfloss. In alle Richtungen gleichzeitig. Evelyn sagte, ich hätte meine seherischen Fähigkeiten

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