Ich uebe das Sterben
sechsmal vorbei, bevor die einhundertachtzig Kilometer beendet sind.
Mein Paps ist super unterwegs, und wir freuen uns jede Runde aufs Neue über seine grandiose Leistung. Nach sechs Stunden und einundfünfzig Minuten übergibt er den Transponder an Harald, der zügig auf die Marathonstrecke läuft.
Mein Paps füllt erst mal seine Energiespeicher mit Getränken und Kuchen wieder auf, lässt sich dann die Beine im Massagezelt lockern, und nach einer Dusche ist er quasi wie neu. Die Strapazen sind ihm nicht anzusehen.
Mein Paps, Tina und ich warten nun auf Harald. Wir essen Eis und lassen es uns gut gehen. Ein klein wenig schlecht fühle ich mich schon dabei, wenn ich daran denke, wie Harald sich über die knapp über zweiundvierzig Kilometer quält.
Nach der Hälfte der Strecke kommt Harald an uns vorbei. Er sieht nicht gut aus, aber wir feuern ihn an, in der Hoffnung, dass ihm das Kraft gibt.
Nach insgesamt zwölf Stunden und neun Minuten überqueren wir zu dritt Hand in Hand die Ziellinie, während Tina sich vor Begeisterung die Seele aus dem Leib schreit.
Das Unternehmen Familienstaffel ist mehr als erfolgreich beendet. Stolz nehmen wir unsere Medaillen und Finisher-Shirts in Empfang. Diesen außergewöhnlichen Tag lassen wir gut gelaunt mit einem kleinen Sektumtrunk in der Ferienwohnung ausklingen.
Schritt für Schritt
I ch bin jetzt richtig motiviert für mein weiteres Training. Schließlich habe ich nun noch ein anderes großes Ziel vor Augen: den Ironman.
Von Bob bekomme ich lange Zeit überhaupt nichts mit. Fast vergesse ich sogar den Mann mit der Sense und seine stete Bedrohung. Ich lerne, meine Angst zu überwinden. Die Angst vor dem Dunkel, das ich schon so oft erfahren habe und an dessen Ende ein Licht stehen soll.
Sterben ist ein aktiver Vorgang, und ich bin noch nicht bis ans Ende gekommen. Gott sei Dank! Aber natürlich hoffe ich – wie wohl die meisten Menschen – auf das große Licht am Ende des Tunnels, auf den Ort, an dem die Farben des Regenbogens zusammenlaufen. Ich glaube fest daran, dass es diesen Ort gibt. Dieser Glaube lässt mich weitermachen – egal, wie sinnlos manchmal alles erscheint – und gibt mir wertvolle Kraft.
Ich habe gelernt, wie wertvoll die Zeit ist. Das Hier und Jetzt zählt. Denn die Vergangenheit ist nicht zu ändern, und die Zukunft ein ferner Punkt, von dem ich nie weiß, ob ich ihn erreichen werde. Es gelingt mir, besondere Momente einzufrieren und sie in meinen Gedanken heraufzubeschwören, wenn ich es am nötigsten habe, um mich zu erinnern, wofür ich kämpfe. Momente für das Buch meiner Erinnerungen, das nur in meinem Kopf existiert. Dieses Buch, das ich ganz sicher mitnehmen werde, in die Welt nach dem Sensenmann.
Wenn ich möchte, kann ich das Buch öffnen, mich in eine der schönen Erinnerungen hineinversetzen und darin Kraft tanken. Dieses Buch gibt es erst, seitdem ich ein Leben führe, das so zerbrechlich ist, dass es von meinem Defi beschützt werden muss.
Denn auch wenn es vielleicht merkwürdig klingt: Durch meine Krankheit und den damit verbundenen Kampf gegen das Sterben, bei dem ich durch meinen implantierten Defibrillator wunderbar unterstützt werde, hat mein Leben an Intensität gewonnen. Ich kann Momente viel besser wertschätzen, und die schönsten von ihnen sammle ich in diesem Buch.
Irgendwann wird es voll sein. Dann werde ich es unter den Arm klemmen und mitnehmen. In dem Moment, in dem ich für immer gehe. Dieser Gedanke ist gut und hilft mir durch den Alltag. Er nimmt dem Tod den Schrecken.
Der Sommer ist voller wertvoller Momente für mich. Ich blühe im Sonnenschein regelrecht auf, ich schwimme im See, und ich laufe.
Einen Zehn-Kilometer-Lauf mit dem Motto »Run and Roll for Help«, bei dem das Startgeld der Teilnehmer für einen guten Zweck gespendet wird.
Einen Halbmarathon im nahen Koberstadt, durch den Wald, mit wenigen Teilnehmern, aber mit einem tollen Flair.
Meinen dritten Marathon am 24. September in Berlin. Die Atmosphäre vor dem Start ist großartig. Ich kann die Siegessäule, an der die Startlinie ist, nur in der Ferne sehen, denn ich stehe im hintersten Startblock. Ich höre nicht mal den Startschuss und brauche fast eine halbe Stunde, um die Startlinie zu überqueren. Erst ab dann läuft die Zeit. Ich bin gespannt, was mich erwartet, denn die Strecke führt an vielen der Berliner Sehenswürdigkeiten vorbei. Hardcore Sightseeing per pedes.
Zunächst schaue ich aber weder nach links noch nach rechts, sondern
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