Ich uebe das Sterben
aufgelöst sitze ich da, bis Harald eine zündende Idee hat. Er ruft Jörg, den Besitzer der Bikeschmiede in Offenbach, an, den er durch seinen Job kennt. Wir verabreden uns für den nächsten Morgen bei ihm im Laden.
In der Bikeschmiede kümmern sich gleich drei nette Jungs um meinen fahrbaren Untersatz. Das Rad ist gute zehn Jahre alt und ein Modell in der Größe sechsundzwanzig Zoll. Mit einem solchen Rad fährt fast niemand mehr in der Triathlonszene. Doch das ist nicht das Hauptproblem: In der anderen Werkstatt wurde ein falsches Schaltauge montiert, und die Teile sind so verbogen, dass die Jungs der Bikeschmiede sie auf die Schnelle nicht reparieren können. Zudem hat Jörg die notwenigen Ersatzteile nicht auf Lager. Eines ist klar: Mit meinem Rad kann ich den Ironman nicht bestreiten.
Meine Nerven versagen komplett, und ich sitze total verzweifelt vor dem Laden auf einer Treppe und weine. Ich habe kein Geld, um mir ein neues Rad zu kaufen – und selbst wenn, dann müsste ich mich erst daran gewöhnen.
Harald sagt nichts zu meinem Nervenzusammenbruch, aber er handelt. Gemeinsam mit Jörg bringt er ein mattschwarzes Fahrrad von Cube vor die Tür und meint: »Probier das mal, das müsste dir passen!«
Ich schwinge mich auf den Drahtesel und drehe, immer noch blind vor Tränen, ein paar Runden. Das Rad ist okay, ich kann gut damit fahren. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich kein Geld habe, um das Rad zu bezahlen. Doch manchmal geschehen eben Wunder: Jörg gibt mir das Rad für den Ironman einfach so mit. Ich bin sprachlos über so viel Menschlichkeit.
Mein altes Rad bleibt in der Bikeschmiede, und ich schaue zum Abschied noch auf den Tacho: 2626 Kilometer habe ich dieses Jahr auf diesem Rad trainiert. Jetzt wird der Tacho auf Null zurückgesetzt, denn er kommt an das neue Rad. Alles neu – nur acht Tage vor dem Ironman.
Ralf sieht das Ganze gelassen, doch leider kann ich seine Gelassenheit nicht teilen. Die lockeren Radausfahrten vor unserer Abreise nach Kärnten werden zur Zerreißprobe, denn alles fühlt sich fremd und ungewohnt an. Aber ich kann es nicht ändern. Und wenn ich seit Beginn meiner Erkrankung eines gelernt habe, dann ist es, die Dinge zu nehmen, wie sie kommen – jedenfalls, wenn man sie nicht ändern kann.
Am 4. Juli ist es endlich so weit. Harald, Andy – ein Freund, der mitreist und sich bereit erklärt hat, Fotos zu machen – und ich fahren los in Richtung Klagenfurt. Ironman, ich komme! Ich bin fast schon hysterisch, gefangen zwischen Angst und Zweifeln und völliger Euphorie.
Keine Ahnung, wie Harald die lange Fahrt mit mir aushält, denn ich rede in einer Tour vom Wettkampf. Wahrscheinlich schaltet er innerlich ab und nickt ab und an freundlich, ohne richtig zuzuhören. Das ist sicher die einzige Möglichkeit, mich zu ertragen.
Als wir in unserer Ferienwohnung ankommen, gießt es wie aus Kübeln, und es ist kalt. Da sich die Wohnung unter dem Dach befindet, müssen wir einige Male die Treppen rauf- und runtersteigen, bis wir das viele Gepäck endlich komplett im Zimmer haben. Meine Knie schmerzen vom Treppenlaufen, und ich friere. Ich sitze vor meinem neuen Rad und fühle mich klein und schlecht.
Doch ich kann mich nicht lange dem Selbstmitleid hingeben. Auf dem Plan steht noch eine kurze Laufeinheit zum Akklimatisieren. Ich trabe los, Berg hoch, hinein in den Wald. Inzwischen nieselt es nur noch, aber Nebelschwaden kriechen mir durch Mark und Bein. Am Horizont sehe ich schneebedeckte Berge. Ich fröstle in meiner Regenjacke und bekomme kaum Luft. Mein Herz schlägt Saltos; ich komme mit der Höhe nicht zurecht. Wir befinden uns hier auf rund 450 Höhenmetern. Das ist eigentlich nicht wirklich hoch, aber zu weit oben für meinen geregelten Herzrhythmus. Tränenüberströmt kehre ich nach dreißig Minuten in die Wohnung zurück.
Dort warten schon Harald und Andy. Die beiden reagieren wie echte Männer: Sie ignorieren meine schlechte Stimmung und versuchen, möglichst normal mit mir umzugehen und mich mit leckerem Essen zu verwöhnen. Bald schon geht es mir wieder besser.
Am nächsten Morgen machen Andy und ich uns auf, um die Radstrecke mit dem Auto abzufahren. Im Gepäck haben wir mein Rad, denn ich will den berühmt-berüchtigten Rupertiberg einmal vor dem Wettkampf hochfahren, damit ich weiß, was da auf mich zukommt.
Zunächst umrunden wir den Wörthersee, direkt auf der Uferstraße. Dann geht es einen sehr steilen Berg hinauf zum Faaker See. Der Anblick,
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