Ich uebe das Sterben
Iso-Getränk blubbert aus der Radflasche heraus, deren Verschluss sich ein Stück geöffnet hat. Ich schimpfe mit mir selbst. Mein rechtes Knie blutet und ist schon geschwollen, der rechte Daumen schmerzt, und ich kann ihn nicht mehr gut bewegen.
Harald erschreckt sich, als er bei meiner Heimkehr mein blutiges Knie sieht. »Alles nicht so schlimm, nur ausgerutscht«, murmle ich und verschwinde unter der Dusche.
Als ich danach mit Harald Pasta esse, kann ich kaum die Gabel halten, denn der rechte Daumen tut richtig weh und ist unförmig. Nun bin ich doch besorgt, aber ich gebe das nicht zu und spiele vor Harald die Unbekümmerte.
Ich will auf keinen Fall riskieren, dass ich einen Gips oder einen Tapeverband bekomme und mein Trainingsplan durchkreuzt wird. Nicht jetzt, wo alles perfekt läuft, mein Herz schon monatelang so artig im Takt schlägt und der Wettkampf nur noch vierundachtzig Tage entfernt ist.
Ich beiße in den kommenden drei Wochen die Zähne zusammen und halte mich streng an meinen Trainingsplan. Allerdings kann ich mit der rechten Hand den Lenker des Rads kaum halten, und auch beim Schwimmen ist jeder Zug mit dem rechten Arm schmerzhaft. Ich bin ein Dickschädel und eine Kämpfernatur, und ich kann Schmerzen gut aushalten – glücklicherweise.
Ich werde schneller: zu Wasser, auf Rädern und mit meinen Füßen. Mit der Zeit wird mein Daumen auch wieder beweglicher und normalisiert seine Form.
Ich hätte nie gedacht, dass mir Radfahren so viel Vergnügen bereiten könnte. Ich fange an, die kleinen Berge in meiner Umgebung liebzugewinnen. Den serpentinenreichen und recht stark befahrenen Anstieg zur Burg Frankenstein. Die holprige, schier endlose kleine Einbahnstraße auf den Melibokus mit Anstiegen bis zu sechzehn Prozent. Und die Kuralpe, auf die eine breite Straße führt und die die Oberschenkel zum Glühen bringt.
Als die Freischwimmsaison beginnt, werde ich Dauergast in Darmstadts Natursee, dem Woog, der nur zehn Minuten von meiner Wohnung entfernt liegt. Hier gibt es keinen lästigen Kampf um Bahnen wie im Schwimmbecken. Im See ist für alle Platz. Ich kann in aller Ruhe meinen Neopren-Anzug testen und mich daran gewöhnen, keine Kacheln am Beckenboden zu zählen, sondern in einer trüben Brühe zu wühlen, in der ich die Hand vor Augen nicht sehe. Das ist eine große Überwindung für mich, denn ich kann die Angst vor einem Stromschlag und anschließendem Ertrinken nicht abschütteln.
Auch beim Laufen komme ich in Form von Sprints und Tempoeinheiten, die Ralf mir auf den Trainingsplan gesetzt hat, voll auf meine Kosten.
Während der Wettkampfvorbereitung funktioniere ich wie ein Uhrwerk. Morgens fällt der erste Blick auf den Trainingsplan, der im Flur hängt. Die Trainingseinheiten sind jeden Tag unterschiedlich, und ich habe keinen freien Tag. Das ist nicht üblich, aber aufgrund meiner Herzprobleme muss ich immer weitertuckern, wie ein Motor. Da sind sich die Ärzte und der Trainer einig. Außer zum Schlafen, Essen und mit den Hunden Spazierengehen bleibt fast keine Zeit für Freizeit, die nichts mit Sport zu tun hat.
Meine Freunde kommen definitiv zu kurz. Aber sie wissen, welchen Lebenstraum ich mir mit der Teilnahme am Ironman erfüllen möchte, und haben Verständnis für mich. Dennoch fehlt mir der Kontakt zu ihnen sehr.
Für mich ist das Training anders als bei »Normalos« – und damit meine ich Menschen ohne Herzprobleme. (Als normal sind die Menschen, die sich an einen Ironman-Triathlon wagen, wohl grundsätzlich nicht zu bezeichnen.) Ich muss viel mehr Zeit in die Vorbereitungen investieren, weil meine Einheiten langsamer und weniger intensiv, dafür aber länger und zeitraubender sind. Zeit – mein kostbarstes Gut, das ich dafür gerne aufbringe.
Wenn man nicht weiß, wie viel Zeit noch bleibt, entwickelt man eine seltsame Beziehung zu Sekunden, Minuten, Stunden und Tagen. Ich möchte keine Sekunde mit irgendetwas verbringen, das mir sinnlos erscheint. Durch meine Krankheit habe ich gelernt, ein wenig egoistischer durchs Leben zu gehen und mehr Rücksicht auf das zu nehmen, was ich will, und mir das, so oft es geht, auch zu gönnen.
Genau genommen weiß kein Mensch, wann es für ihn Zeit ist, für immer zu gehen. Aber mir ist tatsächlich ständig bewusst, dass es im nächsten Moment vorbei sein kann. Die Schwelle zum Tod ist greifbar, und das Sterben habe ich schon oft geübt. Aber eines ist gewiss: Ich verlasse die Welt lieber während eines Trainings, Wettkampfs oder
Weitere Kostenlose Bücher