Ich uebe das Sterben
Hundespaziergangs als daheim auf dem Sofa. Ich kann mich nicht hinsetzen und warten, bis mir das Leben gestohlen wird.
Ich will das Leben aufsaugen, und das kann ich am besten, indem ich mich und meine Umgebung spüre. Den Fahrtwind auf dem Rad, den Widerstand des Wassers unter meinen Händen beim Kraulen oder die knirschenden Steine unter den Füßen und die Regentropfen im Gesicht beim Laufen.
Ich bin mir sicher, dass meine Zeit abgelaufen ist, wenn ich mich nicht bewege, wenn ich diesen Drang vorwärts nicht mehr verspüre. Ich hetze mehr oder weniger durch mein Leben und war dem Tod bisher immer einen kleinen Schritt voraus. Es ist mein ganz persönlicher Wettlauf – gegen die Zeit und gegen das endgültige Aus auf der Erde.
Ich lebe viel bewusster und nehme Dinge völlig anders wahr als früher. Ich kann mich an den kleinsten Kleinigkeiten erfreuen. Wenn man fürchtet, dass einem etwas genommen wird, lernt man, den Wert einer Sache erst wirklich zu schätzen.
Ich liebe das Leben – zumindest in den allermeisten Momenten. Und die Momente, in denen ich trainiere, gehören dazu. Auch wenn manchmal alles schmerzt und ich müde bin, kämpfe ich für meinen Traum. Ein Traum, den Bob jederzeit zunichtemachen könnte.
Aber der gute Bob hat weiter Erbarmen, und ich bewege mich schockfrei durchs Leben. Ich denke nicht mehr daran, wie es ist, wenn der Strom fließt, und wie verzweifelt ich deswegen schon oft war.
Meine Gedanken kreisen um die Zukunft. Das habe ich mir eigentlich verboten. Denn die Ärzte können mir keine Prognose geben, wie viel Zeit mir noch bleibt. Diese Perspektivlosigkeit macht mir oft zu schaffen, aber im Fall der Ironman-Teilnahme werde ich fast schon respektlos gegenüber meiner Erkrankung und blicke nach vorne.
Den Blick habe ich auch beim Radtraining Anfang Mai nach vorne auf die Straße gerichtet. Ich habe gerade einen meiner Hausberge – den Melibokus – bezwungen und sehe plötzlich, wie ein Kleintransporter aus einer Seitenstraße herausschießt. Offensichtlich nimmt er mich nicht wahr. Ich versuche auszuweichen, doch ich habe keine Chance mehr. Der Wagen rammt mich, und ich falle mit meinem Rad in den Graben.
Noch dreiundsechzig Tage bis zum Wettkampf, ist mein erster Gedanke.
Der Fahrer des Transporters steigt aus und beschimpft mich, obwohl ich keine Schuld an diesem Unfall habe. Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht.
Ein freundliches Ehepaar nimmt die Situation in die Hand, ruft die Polizei und einen Krankenwagen. Als ich das begreife, ist es zu spät, mich zu wehren. Am liebsten würde ich mich aufs Rad setzen und einfach nach Hause fahren. Doch bevor ich mich versehe, liege ich im Krankenwagen, während die Polizei mein Fahrrad in ihr Auto lädt.
Die Rettungssanitäter stellen mir viele Fragen, und natürlich erkundigen sie sich auch nach vorhandenen Erkrankungen. Also oute ich mich als Defi-Trägerin und erzähle von Bob.
In den Gesichtern der medizinischen Fachkräfte erkenne ich großes Erstaunen: »Sie sehen ja gar nicht aus, als ob Sie einen Defi brauchen.«
Ich frage mich, wie wohl jemand aussehen sollte, um in diese Schublade zu passen? Ich kenne Männer und Frauen, Kinder und Jugendliche in allen Altersklassen und aus allen Ecken der Welt. Sie sind dick und dünn, lebenslustig und verbittert. Sie sind so unterschiedlich, wie Menschen es eben sind. Nur eines haben sie alle gemeinsam: einen implantierten Defibrillator.
Da ich weiß, dass die Sanitäter nur nett sein und ein wenig mit mir plaudern wollen, gebe ich freundlich Auskunft über meine Erkrankung und meine zahlreichen Schockabgaben.
Im Städtischen Klinikum Darmstadt werde ich in die Notaufnahme eingeliefert. Mein rechter Knöchel, meine rechte Hüfte, das rechte Knie sowie die rechte Hand schmerzen. Meine Radhose und eine meiner Socken haben ein Loch, der Helm ist zerkratzt. Auch mein schöner neuer Herzfrequenzmesser hat einige Schrammen abbekommen. Ich werde unruhig, denn es wäre eine Katastrophe für mich, wenn ich ernsthaft verletzt wäre. Nicht jetzt, so kurz vor dem Ironman.
Ungefähr zwei Stunden und ein paar Röntgenbilder später sind die Diagnosen schon fast erfreulich: Prellungen und Stauchungen in Hand, Hüfte, Knie und Sprunggelenk. Damit ist der Ironman nicht gefährdet. Aber mir wird wieder einmal bewusst, wie schnell etwas vorbei sein kann. Innerhalb von Sekunden können Träume platzen oder auch Leben enden.
Das Röntgenbild meines rechten Handgelenks hat den Arzt zum Staunen
Weitere Kostenlose Bücher