Ich uebe das Sterben
Bekannten aus dem Schwarzwald – am Rand stehen. Ich winke und rufe; das ist zwar auch nicht gerade Kräfte sparend, aber ich freue mich einfach. Über das Wetter, über das Wasser, über die bekannten Gesichter und darüber, dass der Ausstieg schon in Sichtweite ist.
Als ich das Wasser verlasse, sehe ich auf meiner Uhr, dass ich eine Stunde und neunundzwanzig Minuten unterwegs war. Damit liege ich perfekt im Zeitplan. Ein kleines Lächeln huscht über mein Gesicht.
In der Wechselzone ist es relativ leer, denn das Gros der Athleten ist schon auf der Radstrecke unterwegs. Aufgrund dessen habe ich keine Schwierigkeiten, mein Rad zu finden und schiebe es ohne Hektik aus der Wechselzone heraus.
Die ersten Kilometer auf dem Rad fröstle ich, und mein Atem geht schwer. Aber ich genieße den Ausblick auf den Wörthersee in dem Bewusstsein, dass ich ihn heute schon bezwungen habe.
Als mein Tacho zehn Kilometer anzeigt, habe ich meinen Tritt gefunden und fange an zu essen und zu trinken. Die Räder drehen sich wie von selbst, und es geht mir richtig gut.
Am ersten Anstieg zum Faaker See kann ich sogar ein paar Athleten überholen. Das motiviert.
Mein Weg führt mich vorbei an Kühen, Pferden und Schafen. Es geht auf und ab. Fast immer liegt ein grandioses Panorama vor mir. So bringe ich Kilometer um Kilometer hinter mich.
Als ich den Rupertiberg erreiche, höre ich den Song We are the champions von Queen und den Sprecher, der uns Athleten unermüdlich anfeuert. Es wäre wohl vermessen zu sagen, dass es Spaß macht, diesen Berg hinaufzufahren, aber die Gänsehautstimmung entschädigt für die brennenden Oberschenkel.
Als ich nach neunzig Kilometern den Wendepunkt erreiche und in die zweite Runde starte, stehen sie alle da und schreien sich die Seele aus dem Leib: Harald mit Ted, Ralf, Inés, Kathrin, Alex, Kerstin und Andy mit der Kamera.
Ich liege voll im Zeitplan.
Inzwischen ist es warm geworden, und die Sonne scheint von einem wolkenlosen Himmel. So habe ich mir den Ironman vorgestellt – falls man sich so etwas überhaupt vorstellen kann. Meine Stimmung steigt mit jedem Kilometer, den ich hinter mich bringe. Wenn ich das Radfahren pannen- und unfallfrei überstehe, werde ich heute Abend die Ziellinie erreichen.
Als ich den Rupertiberg zum zweiten Mal bezwinge, bekomme ich nur schwer Luft, und meine Herzfrequenz ist gefährlich hoch.
Der Sprecher muntert mich auf: »Gut siehst du aus, Ironlady!« Trotz aller Anstrengung muss ich lächeln.
Dann erreiche ich die Spitze des Bergs.
Beim Einfahren in die Wechselzone plagen mich Magenkrämpfe. Aber als ich sehe, dass ich auf dem Rad sieben Stunden und sechsundzwanzig Minuten benötigt habe, ertrage ich diese leichter.
Ich liege über meinem Zeitplan!
Zum Umziehen für den abschließenden Marathonlauf lasse ich mir Zeit. Dann mache ich mich mit einem wackeligen Schlappschritt auf den Weg. Schon auf den ersten Metern werde ich von Harald, Ralf, Inés, Kathrin und Andy angefeuert. Das tut gut. Kaum einen Kilometer weiter winken mir Kerstin und Alex zu. Ich ringe mir ein Lächeln ab.
Der Himmel ist wolkenverhangen, und in der Ferne höre ich Donner grollen. Ich habe schreckliche Angst vor Gewittern, denn ich habe als Kind in den Bergen schlechte Erfahrungen damit gemacht. Aber zum Fürchten habe ich gerade weder Zeit noch Nerven.
Ich konzentriere mich darauf, möglichst energiesparend zu laufen und versuche trotz Magen-Darm-Problemen zu essen und zu trinken. Ohne Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme werde ich das Ziel nämlich nicht erreichen.
Die Luft ist schwül, die Sonne sinkt, und ich friere. Den Oberkörper weit nach vorne gebeugt, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, schlurfe ich vor mich hin.
Immer wieder tauchen meine lieben Begleiter auf und feuern mich an. Die Laufstrecke hat zwei Wendepunkte, und daher können sie mich ohne viel Aufwand immer wieder sehen.
Ab Kilometer achtzehn kann ich nur noch gehen. Mein Körper ist ausgelaugt. Aber ich quäle mich weiter vorwärts. Ich spreche im Geist mit mir selbst und sage mir immer wieder: »Du schaffst das!«
Als ich Kilometer vierunddreißig erreiche, ist es schon dunkel, und Fackeln erleuchten den Weg. Die Atmosphäre ist toll, und ich sauge sie trotz aller Widrigkeiten in mir auf.
Inzwischen muss ich richtig mit mir kämpfen. Meine Arme werden taub, die Lippen blau, und mir ist schwindelig. Das Herz tanzt. Ich habe Angst und bin wütend. Ich bete, ich schimpfe, ich gebe alles.
Die Dunkelheit
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