Ich übe für den Himmel
roten Clownsnase. Vor ihr sitzt ein kleiner Junge und hält sich an der Mähne fest. Das Mädchen hat seine Arme schützend um den Jungen gelegt.
Über den Jungen ist ein Pfeil gemalt und da steht in denselben Buchstaben wie auf der Rückseite: ich. Über dem Mädchen sehe ich noch einen Pfeil und daneben du. Am Himmel fliegen drei blaue Vögel. Einer von ihnen fliegt sehr hoch und berührt fast die Sonne, den Mond und die Sterne, die nebeneinander am Himmel schweben, zwischen den Wolken. Über eine Wolke und den Flügel des Vogels hat er in großen, gelben Buchstaben geschrieben: ich . Es ist der Vogel, den man nicht mehr ganz erkennen kann, weil er halb hinter der Wolke verschwunden ist.
»Tommy wusste schon vor einer Woche, dass er bald sterben wird«, sage ich leise.
»Viele Kinder wissen, wann sie sterben müssen. Sie halten sich manchmal zurück und suchen sich die Zeit aus, wann sie wegfliegen möchten«, sagt Mama. »Tommy hat den heutigen Tag gewählt. Du hattest Recht, Isha. Er wollte dich und uns für seinen Abschied dabeihaben. Es war sein ausdrücklicher Wunsch. Ich bin so froh, dass du zu Hause warst und auch gekommen bist, Isha.«
»Ihr habt mich das erste Mal mit euch auftreten lassen«, stammele ich, »sonst durfte ich noch nicht mit auf die Clownsvisite in den Zimmern.«
»Heute war eine große Ausnahme. Besser konntest du deine Sache nicht machen«, sagt Papa. »Es war ein unbeschreibliches Glück für Tommy und uns, dass seine Eltern, der Arzt und auch die Schwestern uns erlaubt haben, mit Tommy das Fliegen für seinen letzten, großen Start zu üben.«
»Gab es gar nichts mehr, was Tommy helfen konnte?«
»Nichts mehr, außer genau auf seine Wünsche zu hören. Und das haben wir getan. Wir haben ihm einen dieser Wünsche erfüllt.« Mir kommt ein Gedanke. Eddie hat geahnt, was passieren wird. Deshalb wollte er, dass Mama und Papa die Federn mitnehmen.
Schwester Melanie hat uns mitgeteilt, dass Tommy tot ist. Sie ist schnell ins Schwesternzimmer gelaufen, weil ihr Tränen in die Augen traten. Ich heule und schluchze und kann gar nicht mehr aufhören.
Auch Mama und Papa weinen, und wir sehnen uns nach der bunten Decke aus Indien. Ich trage immer noch die weißen Federn in meinen Haaren und drücke Tommys Zeichnung an meine Brust.
Wir nehmen den Bus nach Hause und suchen uns auf der Bank ganz hinten drei Plätze nebeneinander. Ich weine still vor mich hin, weil Tommy in seinem weißen Vogelfederzimmer mit den blauen Wolkenblumen neben seinem Bett gestorben ist.
Sechs
Der Sonntag ist meistens ein schöner Tag.
Heute ist Sonntag. Als ich aufwache, fällt mir ein, wie unvorstellbar viel ich gestern erlebt habe.
Die Sonne ist schon aufgegangen. Durch die Blätter tanzen Licht- und Schattenflecken auf dem Fußboden in meiner Kammer hin und her. Ich höre an den Geräuschen unter mir, dass in der Küche Frühstück zubereitet wird. Ich starre auf meine Schatztruhe an der Wand gegenüber, in der ich alles aufbewahre, was mir wichtig und lieb ist. Tommys Zeichnung habe ich nicht in die Truhe gelegt. Sie hängt genau über der Truhe. Gestern Abend habe ich das Bild mit Stecknadeln an die gestreifte Tapete geheftet, an die Tapete, die Opa angeklebt hat, als ich noch in Mamas Bauch wohnte.
Während ich das Bild ansehe, fühle ich mich ganz klein. Neben meiner Matratze liegen mein Notizbuch und ein Bleistift. Ich schreibe dort alles auf, male und klebe rein, was mich beschäftigt. Heute schreibe ich:
Sonntag
Heute fühle ich mich winzig wie eine Ameise, nachdem ich gesehen habe, wie groß Tommy wurde, als er fliegen konnte. Und wie glücklich er aussah, obwohl er wusste, dass er nur noch wenige Augenblicke zu leben hatte.
Papa, Mama und ich, wir drei saßen auf der Holzbank im Flur. Wir konnten nicht aufstehen und einfach nach Hause gehen. Tommy war nur eine Tür von uns entfernt und nur er würde entscheiden, wann er Abschied nimmt von der Erde. Irgendwann kamen die Eltern aus dem Zimmer und erzählten uns von seinem Entschluss und dass er gestorben sei. Tommy atme nicht mehr …
Und seine Eltern haben Mama, Papa und mich gefragt, ob wir ihren Liebling noch einmal sehen möchten. Ich hatte noch nie einen Toten gesehen.
Ich fürchtete mich sehr davor, Tommy so schrecklich still liegen zu sehen, obwohl er vorher ja auch schon still war, weil er keine Kraft mehr hatte. Aber jetzt, so ganz still …?
Mama sagte mir, dass Tommy sich so gefreut habe, weil ich gekommen bin. Wenn ich es schaffe,
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