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Ich übe für den Himmel

Ich übe für den Himmel

Titel: Ich übe für den Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patmos
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mit klarer Stimme ganz deutlich: »Ja!«, und strahlt über das ganze Gesicht.
    Mamamoma und Papapipo gehen zum Bett, schieben ihre Hände langsam unter Tommys schmalen Körper, heben ihn vorsichtig hoch und tragen ihn durch das Zimmer.
    Ich gehe voran und mache kleine Flugbewegungen, wie die Schwalben auf meinem Sommerkleid. Wir fliegen durch das Zimmer zum Fenster, an Tommys Eltern vorbei, die auf den Besucherstühlen am Fenster sitzen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie aufgestanden sind.
    Ich öffne die Tür und wir fliegen ohne Worte über den Flur, vorbei, vorbei an allen Zimmern, deren Türen geöffnet sind und in denen die Kinder von ihren Betten aus zusehen oder winken. Wir fliegen weiter ins Spielzimmer hinein und ich schnappe mir im Tiefflug den Stoffraben Abraxas, der auf dem Boden liegt. Wir fliegen wieder hinaus und Tommy lacht. Er lacht lautlos mit dem ganzen Gesicht, mit seinem völlig entspannten, abgemagerten Körper und bewegt seine Arme kaum sichtbar auf und ab, auf und ab. Die Schwestern lassen uns gewähren. Niemand stört und wir heben ab, höher und höher.
    Ich fliege neben Tommy her und er sagt deutlich:
    »Isha, ich weiß, wie es im Himmel aussieht.«
    »Wie denn, Tommy?«, frage ich.
    »Weiß und blau wie die Federn und die Blumen, mit goldenen Pünktchen dazwischen. Und alles fühlt sich leicht an und ein Pferd mit goldenen Flügeln ist auch da. Ich möchte vorher noch mal landen, hier auf der Erde«, haucht Tommy.
    Wir fliegen zurück in sein Zimmer und Mamamoma und Papapipo legen ihn sanft auf das Bett und singen:
    Kommt ein Vogel geflogen,
    setzt sich nieder auf dein Fuß,
    hat ein Zettel im Schnabel,
    von dem Himmel ein Gruß.
    Lieber Tommy, flieg mit mir,
    Bring ein Gruß und ein Kuss
    Denn ich werd hier nicht bleiben,
    weil ich wegfliegen muss.
    Wenn wir vier Vöglein wär’n
    und auch zwei Flügel hätt’n,
    flögen wir mit dir;
    Weil’s aber nicht kann sein,
    Weil’s aber nicht kann sein,
    Bleiben wir hier.

    Es ist still geworden im Zimmer, als die beiden Lieder verklungen sind. Mama und Papa möchten den Abschied für Tommy leichter machen und ihm vermitteln, dass er gehen darf.
    Tommy hat die Augen geschlossen und sieht glücklich aus. Das winzige Lächeln ist wieder da.
    »Tommy«, sage ich, »ich habe einen Gruß von den Vögeln an der Elbe und aus unserem Garten mitgebracht.«
    Ich öffne das andere Leinensäckchen und lege es in seine Hand. Er tastet den Stoff ab, fühlt im Beutel nach und seine Hand kommt mit einer Feder zwischen Daumen und Zeigefinger wieder zum Vorschein.
    »Isha, kannst du die Federgrüße überall in meinem Zimmer ausstreuen, dann finden die Vögel besser den Weg zu mir.«
    Ich greife in den Beutel, werfe Federn hoch, immer und immer wieder, bis das Säckchen leer ist. Die Federn wirbeln wie Schneeflocken durch das ganze Zimmer und wir singen alle ›Leise rieselt der Schnee‹ , aber nur diese eine Zeile. Ich ändere den Text und singe: Leise rieseln die Federn …
    »Es schneit Federn«, sagt Tommy mit klarer Stimme, »mitten im Sommer.«
    Ich warte auf der harten Holzbank im Flur, aber dieses Mal bin ich nicht allein. Rechts neben mir sitzt meine Mutter, links neben mir mein Vater. Sie sind schon abgeschminkt und umgezogen. Bei Mama sehe ich noch rote Schminke am Mund und schwarze und weiße Schminke an den Augen. Der Himmelskoffer steht neben der Bank.
    Wir warten zusammen.
    Vor einigen Minuten kam der Arzt aus Tommys Zimmer. Er hat uns angesehen, aber nichts gesagt. Wir sagten auch nichts. Das muss nicht sein. Mama ist tief in Gedanken versunken, Papa auch. Wir halten uns an den Händen fest, weil wir ohne Worte wissen, dass Tommy jetzt nicht mehr das Fliegen zu üben braucht, sondern direkt in den Himmel fliegen darf. Er weiß, er kann fliegen, allein.
    Eine Schwester kommt aus der Küche. Sie geht an uns vorbei, hält an, sieht mich und sagt:
    »Isha, fast hätte ich es vergessen. Tommy hat mir schon vor einer Woche ein Bild gegeben, das er für dich gemalt hat. Ich hole es dir.«
    Sie geht in das Schwesternzimmer und kommt nach einigen Minuten mit einem Blatt Papier in der Hand wieder.
    »Er hat mich gebeten, es dir zu geben, wenn du wieder hier bist.«
    Für Isha-Clown von Tommy steht in krakeligen Buchstaben auf der Rückseite der Zeichnung geschrieben. Und das Datum. Das Bild ist eine Woche alt.
    Ich sehe eine Wiese mit bunten Blumen und ein weißes Pferd mit goldenen Flügeln, auf dem ein Mädchen mit roten Haaren sitzt, mit einer

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