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Ich übe für den Himmel

Ich übe für den Himmel

Titel: Ich übe für den Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patmos
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Sicherheit sterbe ich … Ich sause auf die dunkelgrüne Fläche zu und mir wird schwindlig vor Panik … Ein unerwartetes Rütteln, danach wieder ein heftiger Ruck: Mein Flug wird mit voller Wucht gebremst. Ich sause in etwas Wabbeliges, Weiches …
    Mit rasendem Herzen setze ich mich schlagartig auf und weiß im ersten Augenblick nicht, wo ich bin. Neben mir liegt friedlich mein Bruder Eddie auf den weichen Decken und bunten Kissen. Ich muss fest geschlafen haben.
    »Eddie«, schreie ich vor Erleichterung. Er lässt sich von meinem Geschrei nicht aus der Ruhe bringen.
    »Du, Isha«, sagt Eddie und sieht mich mit seligem Blick an, »guck mal, was ich habe.« Eddie ist kein Traum, er ist in echt da und mein wonniger Bruder. Vorsichtshalber kneife ich mir in die Arme, weil ich mein Glück nicht fassen kann, dass er einfach entspannt neben mir liegt und ich nicht auf eine dunkelgrüne Fläche aufgeschlagen bin. Irgendwann hatte Eddie sich leise zu mir geschlichen. Er öffnet einen kleinen Leinenbeutel und zeigt mir Federn, viele weiche Federn. Weiße, graue und bunte. Da fällt es mir wieder ein: Papa und er waren unten am Elbufer.
    »So viele Federn haben Papa und du gefunden?«
    »Ja, es war ganz komisch. Papa sagte, dass Tommy die zu uns heruntergeschickt hat. Weil unsere doch alle sind. Denn so viele finden wir fast nie auf einmal.«
    »Du weißt also, was mit Tommy ist?«
    »Papa hat es mir erzählt. Ich finde es schön, dass Tommy mit unseren Federn in den Himmel geflogen ist. Das wollte er doch. Darum hatte ich gesagt, dass Mama und Papa die Federn mit ins Krankenhaus nehmen sollen.«
    »Aber du wusstest doch gar nicht, wie furchtbar krank Tommy war.«
    »Das konnte ich fühlen.«
    »Wie fühlen?«
    »Deine Worte haben mich fühlen lassen: Tommy will bald fliegen. Nach oben.«
    Meinen Bruder Eddie habe ich mal wieder richtig unterschätzt, wie schon so oft. Ich war zu sehr mit mir beschäftigt, als ich aus dem Krankenhaus kam. Gestern Abend haben wir uns nicht mehr viel erzählt, weil wir alle nur noch schlafen wollten.
    »Was weißt du von Papa?«
    »Eine Menge. Aber er hat auch gesagt, dass du mir selbst erzählen solltest, wie du Tommy, Mama und ihn zum Fliegen gebracht hast.«
    Immer noch benommen von meinem schauderhaften Albtraum schildere ich meinem kleinen Bruder mit wenigen Worten, wie Mama, Papa und ich als eingespieltes Clown-Team zusammengearbeitet haben.
    »Weißt du, als ich neben Tommy durch den Krankenhausflur geflogen bin, hatte ich das Gefühl, dass er und ich ganz allein waren: er schon auf dem Weg in den Himmel und ich noch hier auf der Erde. Und trotzdem blieben wir dicht zusammen. Er wollte aber noch ein bisschen hier bleiben und gleichzeitig auch schon weit fort sein. Tommy hat sich noch vor seinem Abflug Zeit genommen, um Tschüss zu sagen, obwohl er eigentlich nicht mehr konnte. Er hatte kaum noch Kraft und war furchtbar müde. Müde von seiner schweren Krankheit. Er wollte seine Eltern aber nicht allzu schnell allein lassen.«
    Plötzlich fange ich an zu weinen, endlich kommen leise Tränen, nicht so laute wie gestern im Flur vom Kinderkrankenhaus. Ich lege mich auf den Bauch, den Kopf auf die Hände, und lasse die Tränen in die bunten Kissen laufen. Eddie streichelt unbeholfen meinen Rücken, die Katze kuschelt sich an mich und ich weine die ganze Anspannung weg, die seit gestern Nachmittag in mir war. Eddie, Esmeralda und ich liegen eng ineinander verschlungen auf Tante Antje.
    »Tommy wünschte sich«, schluchze ich, »noch einmal auf einem Pferd mit Flügeln zu reiten. Das hat nicht mehr geklappt.«
    Ich wische mir mit einem Kissenzipfel die Tränen aus dem Gesicht und atme tief durch.
    »Als er auf Mamas und Papas Armen neben mir durch den Flur getragen wurde und schweben durfte, sagte er zu mir: ›Isha-Clown, ich übe für den Himmel.‹»
    Der Zaunkönig in der Hecke schmettert ein Lied und noch nie zuvor habe ich so tief in mir gehört, wie wunderschön der winzige Vogel singt. Seine Stimme trillert hohe und tiefe Töne, die wie unzählige bunte Glasmurmeln, große und kleine, im hellen Sonnenlicht aneinander klickern. Er singt begeistert und fast ohne Pause und er zaubert einen schmalen, gurgelnden Bach vor meine Augen, irgendwo in einem zartgrünen Wald, in dem ich noch nicht gewesen bin. Ich lasse meine Tränen weiterfließen. Mit dem Lied vom kleinen Zaunkönig und dem Bild von dem Bach im Wald kommt das schlingernde Karussell in mir langsam zum Stillstand und hält

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