Ich und andere uncoole Dinge in New York
Er springt auf, küsst mich flüchtig auf die Wange, wobei mir der Duft von einem coolen Mint-Shampoo in die Nase steigt, winkt dem koreanischen Mädchen zu und zwinkert, so dass sie mit vorgehaltener Hand wieder zu lachen beginnt, und ist weg. Die Stelle, wo Peter meine Wange geküsst hat, ist kühl und trotzdem elektrisch aufgeladen. Ich habe keinen Hunger mehr. Er will mich wiedersehen.
„Wo warst du?“, fragt Rachel, als ich an meinen Platz zurückkomme. „Gretchen hat dich gesucht.“
Mir fällt wieder dieses schwachsinnige Versprechen ein. Das ist leichtsinnig gewesen. Wie kann ich jemals eine Dokumentation für eine Programmierung korrigieren, von der ich nichts verstehe. Shit. Außerdem wird Gretchen denken, ich hätte einen Dachschaden, wenn ich erst jetzt zugebe, dass ich das überhaupt nicht kann. Es bleibt nur ein Ausweg.
„Rachel, kannst du mir bei etwas helfen?“, bringe ich, meinen Stolz herunterschluckend, hervor.
Sie sieht mich mit einer Mischung aus Verachtung und Selbstgefälligkeit an. Dann lehnt sie sich lässig nach vorn, „Schieß los.“ Ich habe schon jetzt keine Lust mehr, ihr diesen Triumph zu gönnen. Leider fällt mir keine andere Lösung bei, wenn ich nicht sofort rausfliegen will, und dann ohne Internetverbindung, Megacomputer und kostenloser Snack- und Kaffeebar dastehen will.
„Ich muss diese Anleitung zum Programmieren umschreiben, aber ich kapiere gar nichts.“
„Du kannst doch gar nicht programmieren“, antwortet Rachel scharfsinnig.
„Eben.“
„Warum gibt Gretchen dir dann so einen Auftrag?“
Ich zucke mit den Schultern.
„Moment. Du willst sagen, sie weiß gar nicht, dass du nicht programmieren kannst? Ich dachte, sie hätten dich schon lange für die unbezahlten Praktikantenaufgaben eingeteilt.“
„Es hat sich bisher nicht ergeben“, muss ich kleinlaut zugeben.
„Wie stellst du dir das denn vor?“ Sie zieht ihre Stirn zusammen, so dass sich an ihrer Nasenwurzel eine steile Falte bildet.
Und dann, ich weiß eigentlich auch nicht warum, sind meine Augen plötzlich voller Tränen, so dass sie jeden Moment drohen, überzulaufen. Schnell ducke ich mich hinter die Cubicle-Wand. Den Triumph möchte ich ihr dann doch nicht gönnen. Einen Moment später taucht Rachels Lockenkopf über der Cubicle-Wand auf.
„Okay, okay. Schick mir den Kram. Aber du solltest Gretchen vielleicht mal mitteilen, was hier abgeht.“
Ich nicke. Ich kann immer noch nicht sprechen, aber diesmal vor Erleichterung. Ich nehme mir fest vor, das Missverständnis aus der Welt zu schaffen. Dann schicke ich Rachel die Dokumente, die sie bearbeiten muss. Ich sitze noch eine Weile rum, aber es gibt nichts mehr zu tun. Draußen ist ein herrlicher Sonnentag und eigentlich habe ich keine Lust, in meiner von der Klimaanlage auf eisige Temperaturen heruntergekühlten Cubicle-Box zu versauern. Ich will schließlich New York kennenlernen. Ich werde Rachel ein kleines Geschenk kaufen, weil sie mir hilft. Als sie einen Moment nicht an ihrem Platz ist, gehe ich heimlich aus dem Büro. Ich laufe zu Fuß Richtung Downtown. Schließlich habe ich Zeit. Auf dem Nachhauseweg ruft meine Mutter an.
„Judilein, wie läuft’s?“, fragt sie atemlos.
„Wie soll’s schon laufen?“, sage ich gestresst in den Hörer, obwohl ich ja gerade in herrlichem Sonnenschein nach Hause bummele. Aber sie hätte auch vorher mal nachfragen können.
„Ist New York nicht einfach wahnsinnig aufregend? Gestern war ich mit Dave bei Donna Karan auf dieser Party…“, blubbert sie weiter, ohne weiter auf meine Antwort einzugehen.
„Mutter, ich mache jetzt seit fast einer Woche dieses beknackte Scirox-Praktikum, wo ich wahrscheinlich morgen gefeuert werde, Rachel hasst mich und … ich habe nicht genug Geld.“ Zwar bin ich wegen all diesen Dingen gerade nicht sonderlich traurig, weil es bei Sonnenschein unheimlich schön ist, die Straßen entlang zu schlendern, aber falsch sind sie auch nicht.
„Ach, Judilein, sorry, dass ich so wenig Zeit für dich habe. Lass uns heute Abend zusammen Essen gehen. Wann kommst du denn von der Arbeit? Ich kann dich abholen“, schlägt sie gönnerhaft vor, von ihrer eigenen Großzügigkeit beeindruckt statt mitfühlend, wie man das von seiner Mutter erwarten könnte.
„Vor zehn bin ich wahrscheinlich nicht zu Hause.“
„Was? Praktikanten müssen so lange arbeiten?“ Sie ist ehrlich geschockt, stelle ich zufrieden fest.
„Mutter, wir sind in New York“, sage ich im gleichen
Weitere Kostenlose Bücher