Ich und du Muellers Kuh
so reichte es doch hie und da zu einem kleinen, erfrischenden Nickerchen.
Aber nicht nur die Kinder liebten Sigmund Säusele. Ein Herz in der Gemeinde schlug besonders innig für ihn, und das war das Herz des vielgeprüften Mesners Lasewatsch.
»Dieser Pfarrer sieht aus wie ein Räuber«, so sprach er, »aber er ist ein leibhaftiger Engel! Er hat mir den zweitschönsten Augenblick meines Lebens geschenkt!«
Ich brauchte nicht lange zu bitten. Mesner Lasewatsch erzählte gerne von diesem erhebenden Erlebnis. Sie wären zusammen in der Kirche gestanden, Pfarrer Säusele und er, denn sie hätten Amtliches besprechen müssen. Da wäre ein fremder Mensch aufgetaucht, hätte einen kurzen Blick auf Herrn Säusele geworfen, sich aber sofort abgewandt und mit Ehrerbietung in der Stimme zu ihm, Lasewatsch, gesagt: »Bitte, Herr Pfarrer, darf ich die Kirche besichtigen!«
»Das war also der zweitschönste Augenblick, und wann war der allerschönste?«
»Der allerschönste«, Mesner Lasewatschs Gesicht floß über vor Glückseligkeit, »der war, als mich einer mit dem Dekan verwechselt hat.«
Fisch muß schwimmen
»Seid ihr an Silvester schon ausgebucht?« fragte Evelyn, eine neugewonnene Freundin.
»Ausgebucht? Nein, wieso?«
»Ihr wollt doch nicht etwa allein zu Hause bleiben?«
»Wir haben es immer so gemacht, und es war eigentlich ganz gemütlich.«
»Gemütlich! An Silvester!« Sie drehte die Augen gen Himmel und schlug in fassungslosem Staunen die Hände zusammen. »Das gibt’s doch nicht! Also, ihr kommt zu uns! Wir machen eine tolle Silvesterparty in ganz kleinem Rahmen. Höchstens zwanzig Leute...«
»Evelyn, es geht nicht, so leid mir’s tut. Manfred hat um Mitternacht einen Gottesdienst zu halten.«
»Pah, was macht das aus. Wir feiern ab acht Uhr. Er kann dazwischen den Gottesdienst halten, und dann kommt er wieder. Das ist doch kein Hinderungsgrund. Also abgemacht! Ihr kommt! Ich rechne fest mit euch!«
So besprach sie es mit mir und ich mit Manfred, und es ward festgelegt, daß wir zum ersten Mal in unserem Leben Silvester auswärts feiern würden.
Silvester in meinem Elternhaus. Lange, bedrückende Stunden vor Mitternacht. Wir saßen alle im Wohnzimmer, nur Vater bereitete die Neujahrspredigt vor, ging über uns im Studierzimmer auf und ab. Mutti »zog Losungen«. Nacheinander schlug sie für jeden von uns das Losungsbüchlein auf, sie tat es ganz wahllos, so behauptete sie jedenfalls, und die Stelle, die sie fand, schrieb sie ab und überreichte sie dem Betroffenen. Diese Losung sollte ihn durch das ganze Jahr begleiten und eine besondere Mahnung und Hilfe für ihn sein. Seltsamerweise paßten die Bibelsprüche und Gesangbuchverse immer haargenau zu der Person, für die sie gezogen waren. Deshalb hatte ich meine Mutter stark im Verdacht, daß sie ein wenig nachhalf und so lange suchte, bis sie das richtige gefunden hatte. Aber was machte das aus? Es war ihr wichtig, und wir freuten uns darüber, dankten ihr und versprachen, daß wir diese Losung nicht vergessen wollten.
Ich brachte meine Buchhaltung in Ordnung und zog Bilanz über das vergangene Jahr. In einem Taschenkalender hatte ich aufgeschrieben, was mir an jedem Tag wichtig und wertvoll erschien, welche Bücher ich gelesen, welche Filme ich gesehen, welche männlichen Wesen ich geliebt, was für Geschenke und Briefe ich bekommen, wie viele Freudentage ich erlebt, wie viele Schreckenstage durchlitten. Dies alles zählte ich zusammen, bekam 96 Bücher heraus, 13 Freudentage, 24 Schreckenstage, hatte 9 Filme gesehen und vier Männer geliebt — wenn auch nur aus der Ferne und ohne daß sie etwas von ihrem Glück ahnten. Diese Abrechnung beschloß ich mit mehreren dicken, schwarzen Strichen, blätterte dann um und begann ein neues Blatt und ein neues Jahr mit einer langen Liste aller Laster, welche ich hinfort abzulegen gedächte und aller Tugenden, welche ich annehmen wollte, und nachdem ich dies alles geschrieben und bedacht, stützte ich das Haupt in beide Hände und seufzte schwer.
Um Mitternacht läuteten die Glocken, und der Posaunenchor spielte vom Kirchturm herunter: »Nun laßt uns gehn und treten...«
Vater kam zu uns. Jeder umarmte jeden, wünschte ein gesegnetes neues Jahr, und die Eltern fugten noch Ermahnungen hinzu.
»Gelt, Amei, im neuen Jahr bist du nicht mehr so schnippisch und hältst deine Zunge besser im Zaum!«
»Ja, ganz bestimmt, ich hab’s schon aufgeschrieben!«
»Stefan, im neuen Jahr, da wollen wir ganz
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