Ich und du Muellers Kuh
als trügerisch. Noch bevor ich solche Illusionen recht hätte nähren können, begann es zu surren, und Beethovens Neunte brauste auf — als Begleitmusik, denn Hugo Pratzel liebte Heroisches.
Er filmte seit zehn Jahren, und weil er ein beständiger Mensch war, heute noch so wie damals.
Seine Filmtechnik aber war diese: Hoch mit der Kamera auf Turmspitzen und Baumwipfel, sodann mit affenartiger Geschwindigkeit an denselben wieder herunter, dann ganz nahe heran ans Objekt, dann ganz weit fort. Dies alles tat er auch fahrend aus Auto oder Zug, so daß wir vermeinten, auf unseren Sesseln rückwärts zu gleiten. Ich schloß die Augen und versuchte, an Schönes zu denken, neben mir stöhnte Julius Fink. Beethoven dröhnte im Fortissimo, aber Hugo Pratzels Stimme übertönte ihn: »Schaut es euch an! Das macht mir so leicht keiner nach. Seht ihr das Motorboot über den Titisee rasen? Ich habe es vom fahrenden Bus aus gefilmt...«
Wir schauten, und mir wurde so schlecht wie noch nie in meinem Leben. Die Übelkeit nach der Silvesterparty war nichts dagegen, ein Klacks, ein leichter Anflug von Unwohlsein.
Die Kinder schauten fröhlich drein und knabberten Kuchen. Sie waren dergleichen Veranstaltungen gewöhnt und durch und durch abgehärtet.
Ich versuchte, mich aus meinem Sessel hochzustemmen.
»Halt!« kommandierte Hugo Pratzel, »jetzt kommt das Beste! Ich lasse das ganze rückwärts laufen. Es ist einfach umwerfend!«
Es war umwerfend. Ich kroch aus Pratzels Wohnzimmer, und hinterher krochen die Finks und die Säuseles, stöhnend, grünbleichen Antlitzes.
»Was ist los? Wo wollt ihr hin...«
Aber Hugos Stimme erreichte uns nicht mehr. Wir hockten im Flur auf dem Boden. Julius zog ein Fläschchen aus der Tasche, hob es zum Mund und nahm einen kräftigen Schluck.
»Kefir hilft immer«, keuchte sein Weib mit verzerrtem Lächeln.
Das Fläschchen machte die Runde. Der Rest blieb für Maria. Sie trank ihn aus in einem Zug. »Aber Julius!« so sprach sie dann und schaute ihren Mann strafend an.
Als wir uns verabschiedeten, nahm Manfred seinen Kollegen beiseite.
»Hugo«, sagte er, »wir müssen einmal über deine Filme sprechen. Schau, du bist ein so netter Mensch, und wir alle mögen dich, aber...«
»Schon gut«, unterbrach ihn Hugo, »du brauchst nichts zu sagen. Jeder hat seine besonderen Gaben. Ich kann nun einmal filmen. Sei nicht traurig. Du kannst dafür etwas anderes.«
»Ja«, meinte Manfred, »wenn du es so siehst...«
Zehn Tage später rief Agathe Säusele an:
»Habt ihr morgen abend frei?« fragte sie. »Kommt zu uns. Wir wollen ein bißchen diskutieren. Und wir könnten gruppendynamische Spiele machen. Paß auf, es wird nett, wir freuen uns!«
»Wir freuen uns auch«, sagte ich, aber es klang vermutlich nicht sehr überzeugend.
»Was sind eigentlich gruppendynamische Spiele?« fragte ich Manfred.
»O«, meinte der, »das ist etwas sehr Gutes. Sie dienen der Lockerung, sie lassen Komplexe deutlich werden, und sie bauen Aggressionen ab.«
»Ich habe keine Komplexe und Aggressionen!«
»Ach, weißt du, man täuscht sich da manchmal über sich selbst.«
Also gingen wir zu den gruppendynamischen Spielen der Familie Säusele. An der Wohnungstür stießen wir auf Finks und Pratzels. Auf unser Läuten erhob sich drinnen ein gewaltiges Geschrei:
»Sie sind da! Sie kommen! Mammi, ich will noch aufbleiben! Pappi, ich will von dem Guten essen! Laß mich aufmachen! Nein, mich...!«
Hugo Pratzel neben mir knirschte mit den Zähnen. »Das sollten meine sein!«
Die Wohnungstür sprang auf. Vier kleine Säuseles, mehr oder weniger angezogen, wuselten in der Diele umher. Pappi kam, die Gitarre in der Hand.
»Kommt herein! Wir wollen gerade das Abendlied singen!«
»Auch das noch!« Julius Fink, der musikalische, seufzte tief auf. Pappi Säusele setzte sich auf den Teppich. Oswald, Prilli, Esther und Tobias gruppierten sich um ihn herum, wobei sie sich balgten, stießen, kniffen und bissen. Mammi lehnte sich an Pappi — es war ein schönes Bild.
Wir Gäste ließen uns so weit entfernt wie möglich auf Couch und Sessel nieder. Sigmund Säusele stimmte die Gitarre nach unerfindlichen Gesetzen, klimperte erst ein wenig, nickte dann seinen Sprößlingen aufmunternd zu, und dann sangen sie: »Ein Vogel wollte Hochzeit machen«.
Es war ein Kunsterlebnis eigener Art. Jedes Familienmitglied schien eine andere Tonart zu bevorzugen. Auch sangen sie nur die erste Strophe, diese aber fünfmal hintereinander, und
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