Ich Und Kaminski
öffnete das Fenster, setzte mich auf das Fensterbrett und zündete eine Zigarette an. Der Wind wehte die Asche davon, ich blies bedächtig den Rauch in die kühle Luft. Die Sonne berührte schon einen der Berggipfel, gleich würde sie verschwinden. Also nur noch diese Mappe. Ich schnippte die Zigarette weg, setzte mich an den Schreibtisch und zog mein Taschenmesser hervor.
Ein einziger glatter Schnitt von oben nach unten auf der Rückseite. Das Leder, schon brüchig, gab mit einem knarrenden Geräusch nach. Ich schnitt vorsichtig und langsam, dann klappte ich die Mappe von hinten auf. Niemand würde es bemerken. Warum sollte jemand sie herausnehmen, solange Kaminski noch lebte? Und danach war es egal.
Sie enthielt nur wenige Blätter. Ein paar Zeilen von Matisse, er wünsche Erfolg, habe Kaminski mehreren Sammlern empfohlen und sei mit Zuversicht und guten Wünschen hochachtungsvoll... Der nächste Brief ebenfalls von Matisse:
Der Mißerfolg der Ausstellung tue ihm leid, aber da sei nichts zu machen, er empfehle Ernst und ständige Arbeit und sehe optimistisch in Herrn Kaminskis Zukunft, im übrigen sei er mit vielen guten Wünschen... Ein Telegramm von Picasso: Spaziergänger wundervoll, wünschte, das wäre von mir, alles Gute, Compadre, lebe immer! Dann, schon ziemlich vergilbt, drei Briefe in Richard Riemings kleiner, schwer lesbarer Handschrift. Den ersten kannte ich, er war in allen Rieming-Biographien abgedruckt; es war ein seltsames Gefühl, ihn plötzlich in der Hand zu halten. Er sei nun also auf dem Schiff, schrieb Rieming, und man würde sich in diesem Leben nicht mehr treffen. Das sei kein Grund zur Trauer, sondern eine Tatsache; und selbst wenn es nach der Trennung von diesem zerstörbaren Körper noch Modi des Fortbestandes gebe, so sei doch nicht ausgemacht, daß wir uns dann der alten Maskierungen erinnern und uns wiedererkennen würden, mit anderen Worten, gebe es denn Abschiede für immer, so sei dies einer. Sein Schiff sei unterwegs zu einem Ufer, an dessen Wirklichkeit er den Behauptungen der Bücher, der Fahrpläne und seiner eigenen Fahrkarte zum Trotz noch immer nicht glauben könne. Doch solle dieser Moment gegen Ende eines bestenfalls als Kompromiß mit dem sogenannten Leben angelegten Daseins nicht vorbeigehen, ohne für die Versicherung genutzt zu werden, daß er, Rieming, hätte er sich das Recht erworben, einen Menschen seinen Sohn zu nennen, diese Bezeichnung niemand anderem als dem Empfänger dieses Briefes zugestehen wolle. Er habe ein Leben geführt, das diesen Namen kaum verdiene, sei hiergewesen, ohne zu wissen, weshalb, habe sich getragen, weil man es eben müsse, oft frierend, manchmal Gedichte schreibend, deren einige das Los gehabt hätten, Gefallen zu finden. So stehe es ihm wohl kaum zu, jemandem von einem ähnlichen Weg abzuraten, und wünsche nur, daß Manuel von Traurigkeit verschont bleiben solle, das sei schon viel; eigentlich sei es alles.
Die beiden anderen Briefe Riemings waren älter und noch an Kaminski als Schüler gerichtet: In dem einen riet er ihm, nicht noch einmal aus dem Internat zu fliehen, es helfe nichts, man müsse durchhalten; er wolle nicht behaupten, daß Manuel einmal dankbar sein, aber er verspreche ihm, daß er darüber hinwegkommen werde, man komme grundsätzlich über das meiste hinweg, auch wenn man nicht wolle. In dem anderen kündigte er an, daß Worte am Wegrand im nächsten Monat erscheinen werde und er dem Buch mit der bangen Freude eines Kindes entgegenblicke, das befürchtete, zu Weihnachten das Falsche zu bekommen, und doch wisse, daß, was immer es bekäme, das Richtige sei. Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Aus alldem sprach etwas Kaltes und Geziertes. Rieming war mir immer schon unsympathisch gewesen.
Der nächste Brief war von Adrienne. Sie habe lange nachgedacht, es sei ihr nicht leichtgefallen. Sie wisse, daß es nicht in Manuels Fähigkeiten liege, Menschen glücklich zu machen, und daß das Wort glücklich für ihn nicht die gleiche Bedeutung habe wie für andere. Aber sie werde es tun, sie werde ihn heiraten, sie sei zu dem Risiko bereit, und wenn es ein Fehler sei, so werde sie ihn machen. Dies sei für ihn wohl keine Überraschung, für sie aber sei es eine. Sie danke ihm, daß er ihr Zeit gelassen habe, sie fürchte sich vor der Zukunft, aber vielleicht müsse das so sein, und womöglich würde sie auch einmal fähig sein, ihm die Worte zu sagen, die er so gerne hören wolle.
Ich las es noch einmal und wußte
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