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Ich Und Kaminski

Ich Und Kaminski

Titel: Ich Und Kaminski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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kleines, mit Kreide schraffiertes Feld. Keine Vorzeichnung, nichts, das erkennen ließ, was hier hätte entstehen sollen. Als ich zurücktrat, merkte ich, daß ich vier Schatten hatte, einen von jedem Scheinwerfer, die sich zu meinen Füßen überschnitten. An der Wand lehnten mehrere große Leinwände, abgedeckt mit Planen aus Segeltuch.
    Ich zog die erste Plane weg und zuckte zusammen. Zwei Augen, ein verzerrter Mund: ein Gesicht, eigentümlich schief, wie eine Spiegelung in fließendem Wasser. Es war in hellen Farben gemalt, rote Linien zogen sich wie verlöschende Flammen von ihm weg, seine Augen betrachteten mich fragend und kalt. Und obwohl der Stil unverkennbar war - der dünne Farbauftrag, die Neigung zum Rotgelben, von der sowohl Komenew als auch Mehring schrieb -, sah es doch anders aus als alles, was ich von ihm kannte. Ich suchte seine Signatur und fand sie nicht. Ich griff nach dem nächsten Tuch; als ich es berührte, hob sich eine Staubwolke.
    Dasselbe Gesicht, diesmal ein wenig kleiner und rund in sich geschlossen, um die Mundwinkel ein abfälliges Lächeln. Auf der nächsten Leinwand war es wieder, diesmal mit unnatürlich in die Breite gezogenem Mund, die Augenbrauen liefen spitz auf die Nase zu, die Stirn furchte sich in maskenhafte Falten, einzelne Haare sträubten sich dünn, wie Risse im Papier. Kein Ansatz eines Halses, kein Körper, nur der abgetrennt im Leeren schwebende Kopf. Ich zog Plane um Plane weg, nun verformte sich das Gesicht stärker: Das Kinn zerrte sich in die Länge, die Farben wurden greller, Stirn und Ohren überlang. Aber seine Augen schienen mich jedesmal ferner, unbeteiligter und, ich zog die nächste Plane weg, verachtungsvoller anzublicken. Nun war es nach außen gewölbt wie in einem Zerrspiegel, hatte eine Harlekinnase und gekräuselte Stirnfalten, auf der nächsten Leinwand - die Plane verhakte sich, ich riß sie mit aller Kraft herunter, Staub wirbelte auf, ich mußte niesen - drückte es sich zusammen, als ballte der Spieler einer Handpuppe die Faust. Auf der nächsten Leinwand war es nur undeutlich zu sehen, wie durch vorbeiziehenden Schnee. Die übrigen Bilder waren nicht mehr zu Ende gebracht, nur Vorzeichnungen mit einigen Farbflächen, dort war eine Stirn, hier eine Wange erkennbar. In der Ecke lag, wie weggeworfen, ein Skizzenblock. Ich hob ihn auf, wischte ihn ab und öffnete ihn. Das gleiche Gesicht, von oben, von unten, von allen Seiten, einmal sogar, wie eine Maske, von innen gesehen. Die Skizzen waren mit Kohlestift gezeichnet, zunehmend unsicher, die Striche wurden zittrig und verfehlten einander, schließlich gab es nur mehr einen dicken schwarzen Fleck. Kohlesplitter rieselten mir entgegen. Die restlichen Seiten waren leer.
    Ich legte den Block weg und begann, die Bilder nach einer Unterschrift oder einem Datum abzusuchen. Vergeblich. Ich drehte eine der Leinwände um und untersuchte den Holzrahmen, eine Glasscherbe fiel zu Boden. Ich hob sie mit spitzen Fingern auf. Da waren noch mehr; der ganze Fußboden hinter den Bildern war bedeckt mit zerbrochenem Glas. Ich hielt die Scherbe gegen das Licht und kniff ein Auge zu: Der Scheinwerfer machte einen winzigen Sprung, seine schwarze Fassung schlug eine Welle. Das Glas war geschliffen.
    Ich holte meine Kamera aus der Tasche. Eine kleine, sehr gute Kodak, ein Weihnachtsgeschenk von Elke. Die Scheinwerfer waren so hell, daß ich weder Stativ noch Blitz brauchen würde. Ich ging in die Knie. Ein Gemälde mußte, das hatte mir der Fotochef der Abendnachrichten erklärt, ganz von vorne aufgenommen werden, damit keine perspektivische Verkürzung entstand, nur so war es zum Abdruck brauchbar. Ich fotografierte jede Leinwand zweimal und dann auch, ich stand auf und lehnte mich an die Wand, die Staffelei, die Pinsel auf dem Boden, die Glassscherben. Ich knipste, bis der Film zu Ende war. Dann steckte ich die Kamera ein und begann, die Bilder wieder abzudecken.
    Es war anstrengend, und immer wieder verhakten sich die Planen. Woher kannte ich dieses Gesicht? Ich beeilte mich; ich wußte nicht warum, aber ich wollte so schnell wie möglich hinaus. Wieso in aller Welt kam es mir bekannt vor? Ich kam zum letzten Bild, begegnete seinem abschätzigen Blick, deckte es zu. Ich ging auf Zehenspitzen zur Tür, schaltete das Licht aus und atmete unwillkürlich auf.
    Wieder stand ich im Flur und horchte. Im Wohnzimmer brummte noch die Fliege. »Hallo?« Niemand antwortete. »Hallo?« Ich ging hinauf ins erste Stockwerk.
    Zwei

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