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Ich Und Kaminski

Ich Und Kaminski

Titel: Ich Und Kaminski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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nicht möglich! Ich hatte gehofft, ihn zu überraschen und zu verwirren, um ihn dazu zu bringen, von Therese zu sprechen. Doch ich hatte ihn nicht entführen wollen! »Sie sind seit Jahren nicht gereist.«
    »Die Autoschlüssel hängen neben der Haustür. Sie können doch fahren?«
    »Ich fahre sehr gut.« Hatte er wirklich vor, jetzt sofort, einfach so, zusammen mit mir...? Er mußte verrückt sein. Andererseits: War das mein Problem? Natürlich, die Reise würde seine Gesundheit gefährden. Aber um so früher konnte das Buch erscheinen.
    »Was ist nun?« fragte er.
    Ich setzte mich auf den Bettrand. Ruhig bleiben, dachte ich, ruhig! Nachdenken! Ich konnte es auch lassen und einfach hinausgehen; er würde einschlafen, und morgen früh hätte er das Ganze vergessen. Und die Gelegenheit meines Lebens wäre vorbei.
    »Also los!« rief ich. Ich sprang auf, das Bett quietschte, er zuckte zusammen.
    Ein paar Sekunden saß er starr da, als könnte nun er es nicht glauben. Dann streckte er langsam die Hand aus. Ich faßte danach, und in derselben Sekunde wußte ich, daß es entschieden war. Sie fühlte sich kühl und weich an, doch ihr Griff war überraschend fest. Ich stützte ihn, er glitt aus dem Sessel. Ich stockte, er zog mich zur Tür.
    Im Gang blieb er stehen, ich schob ihn mit Bestimmtheit weiter. Auf der Treppe hätte ich nicht mehr sagen können, wer von uns den anderen führte.
    »Nicht so schnell«, sagte ich heiser. »Ich muß noch Ihr Gepäck holen.«

VII
    Nun fuhr ich also wirklich den BMW. Die Straße lief steil abwärts, die Scheinwerfer holten nur ein paar Meter Asphalt aus der Dunkelheit; die Kurven waren schwierig zu fahren. Wieder eine: Ich riß das Lenkrad herum, die Straße krümmte sich und krümmte sich stärker; ich dachte, nun müsse es vorbei sein, doch sie krümmte sich immer noch; wir kamen gefährlich nahe an den rechten Rand, der Motor gab ein hustendes Geräusch von sich, ich schaltete hinunter, er heulte auf, die Kurve war vorbei.
    »Sie müssen früher schalten«, sagte Kaminski.
    Ich verkniff mir eine Antwort, schon war die nächste Kurve da, und ich mußte mich konzentrieren: Schalten, etwas weniger Gas, zurückschalten, der Motor gab ein tiefes Brummen von sich, die Straße streckte sich in die Gerade.
    »Sehen Sie!« sagte er.
    Ich hörte sein Schmatzen, sah aus dem Augenwinkel die Bewegung seiner Kiefer. Er hatte die schwarze Brille aufgesetzt, die Hände im Schoß gefaltet und den Kopf zurückgelegt, über Hemd und Pullover trug er immer noch den Schlafrock. Ich hatte seine Schuhbänder zugebunden und ihn angeschnallt, aber er hatte den Gurt sofort wieder geöffnet. Er sah blaß und aufgeregt aus. Ich öffnete das Handschuhfach und legte das eingeschaltete Diktaphon hinein.
    »Wann war Ihre letzte Begegnung mit Rieming?«
    »Einen Tag bevor sein Schiff ablegte. Wir gingen spazieren, er trug zwei Mäntel übereinander, weil ihm kalt war. Ich sagte, daß ich Probleme mit dem Sehen hatte, er sagte: ›Üben Sie Ihr Gedächtnis!‹ Er schlug ständig die Hände zusammen, und seine Augen tränten. Chronisch entzündet. Er war sehr besorgt wegen der Reise, er hatte Angst vor dem Wasser. Richard hatte Angst vor allem.«
    Plötzlich waren wir in der längsten Kurve, die ich je gesehen hatte: Mir war, als ob wir uns im Kreis drehten, fast eine Minute lang. »Und seine Beziehung zu Ihrer Mutter?«
    Er schwieg. Die Häuser des Dorfes tauchten auf: Schwarze Schatten, erleuchtete Fenster, ein Ortsschild, ein paar Sekunden schwebten Straßenlaternen über uns, der Hauptplatz zeigte seine hellen Auslagen. Noch ein Ortsschild, diesmal durchgestrichen, dann wieder Dunkelheit.
    »Er war einfach da. Er bekam zu essen, las seine Zeitung und ging abends in sein Zimmer, um zu arbeiten. Mama und er waren immer per Sie.«
    Die Kurven wurden weiter. Ich hielt das Lenkrad lockerer und lehnte mich zurück. Allmählich gewöhnte ich mich daran.
    »Er hatte natürlich keine Lust, mein Gekritzel in sein Buch aufzunehmen. Aber er hatte Angst vor mir.«
    »Wirklich?«
    Kaminski kicherte. »Ich war fünfzehn und ein bißchen wahnsinnig. Der arme Richard dachte, ich wäre zu allem fähig. Ein angenehmes Kind war ich jedenfalls nicht!«
    Ich schwieg verdrossen. Natürlich wäre das, was er mir da sagte, eine Sensation; aber womöglich wollte er mich nur in die Irre führen, es klang einfach nicht wahrscheinlich. Wen hätte ich fragen können? Neben mir saß der letzte Mensch, der Rieming noch gekannt hatte. Und

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