Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono
bekannt.
»Seit jenem Tag bleibt mir nichts weiter übrig, als selbst Hand anzulegen oder Enthaltsamkeit.«
79
Der vollbesetzte Bus war in Richtung Hauptbahnhof unterwegs. Die Zeitung in der Hand und eine schwarze Sonnenbrille auf der Nase, hielt er sich am ledernen Haltegurt fest, der von oben herabhing. In den öffentlichen Verkehrsmitteln Mailands konnte man zwei gegensätzliche, unvereinbare Extreme antreffen: zum einen Zigeuner, Immigranten und Schwarze aus Zentralafrika. Zum anderen sittsame, abgekämpfte, blonde junge Frauen in bequemen Schuhen und frisch erworbenen Sportklamotten. Studentinnen auf dem Weg zu einem Sommersprachkurs oder Erasmus-Jahr. Haushaltshilfen, Kindermädchen.
Carmen war stolz auf die Rolle, die ihr zugeteilt worden war, und sie zeigte keinerlei Nervosität. Es war bereits ihre sechste Fahrt im 60er Bus. Obwohl sie so unauffällig wie möglich gekleidet war, hatte sie das untrügliche Gefühl, dass sich der Fahrer, der sie lüstern im Rückspiegel beobachtete, bereits seinen Teil dachte. An der Endhaltestelle musste sie ihn unbedingt aufklären, bevor es zu spät war. Wenn man sich die Fahrgäste so anschaute, konnte als Haardieb im Grunde jeder verdächtig sein. Der Mann dort, zum Beispiel, mit dem Schlapphut. Er hatte seine Hände tief in den Hosentaschen vergraben und schaute mit leerem Blick vor sich hin. Oder dieser, etwas jüngere dort, der bereits seit zehn Minuten mit seinem Handy telefonierte und dabei ständig an seinen Nägeln kaute. Oder vielleicht auch der Mann gleich hier, der eine fettige Focaccia aß und sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht wischte. Eine Frau näherte sich ihr und bat sie um eine Auskunft: »Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich in den 54er umsteigen muss?«
»Nein«, antwortete ihr die Polizistin. Im gleichen Augenblick machte der Bus eine abrupte Bremsung, bei der die Fahrgäste durcheinandergeschüttelt wurden. Carmen stieß gegen die Person vor ihr, fing sich und spürte, wie dabei etwas ihrem Rücken einen heftigen Schlag versetzte. Sie drehte sich um. »Können Sie nicht aufpassen mit Ihren Haaren?« Ihr Zopf war einer sitzenden Dame wie eine Peitsche im Gesicht gelandet. Carmen entschuldigte sich, fasste an das untere Ende ihrer Haare und zog daran, wie am Seil einer Kirchenglocke. Doch irgendetwas stimmte nicht. Sie tastete den Zopf von oben nach unten ab und musste sich die bittere Erkenntnis eingestehen: Er war nur noch zur Hälfte da. Abgeschnitten, aber nicht komplett.
Aus heiterem Himmel packte sie den Mann, der hinter ihr stand und nun zu schreien begann. In einer noch höheren Lautstärke forderte Carmen den Busfahrer auf anzuhalten. Dieser fuhr an die Seite, öffnete die Türen und ging auf sie zu. Sie versuchte, alles zu erklären, doch er, bereits misstrauisch geworden, glaubte kein einziges Wort von dem, was sie sagte. Eine Traube an Fahrgästen verließ den Bus, unter ihnen auch der missgelaunte Haardieb, der es dieses Mal nur zur Hälfte geschafft hatte, seine Gier zu stillen. Carmen hielt indessen noch immer den falschen Mann fest. Der Busfahrer versuchte noch, ihren klammernden Griff zu lösen, als ihr Blick den auf den Boden starrenden, wahren Schuldigen traf, dessen eine Hand in der Hosentasche steckte, während die andere die Beute umfasste.
Sein Blick und seine anschließende Flucht waren schließlich Beweis genug. Sie heftete sich wie eine Hundertmeterläuferin an seine Fersen, doch er war schneller als sie. Mehrmals blickte er prüfend über seine Schulter, ob sie ihm noch folgte, und rannte dabei in ein geparktes Motorrad. Bevor er sich wieder aufrappeln konnte, saß Carmen bereits rittlings auf ihm drauf, wobei sie sich ihre, für diesen Anlass völlig unpassende Waffe, in einen ihrer festen und berühmten Oberschenkel bohrte. Er brüllte wie ein Tier, ohne aufzugeben. Sie hieb auf ihn ein, so gut sie konnte, wobei ihr seltsamerweise der Busfahrer zu Hilfe eilte, der ihren im Laufen zugebrüllten Satz inzwischen verdaut hatte: »Ich bin Polizistin, verdammt noch mal!«
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Mit baumelndem Zopf und durchlöchertem Oberschenkel lag sie im Krankenwagen. Maria Dolores saß an ihrer Seite. »Gut gemacht«, lobte sie Carmen. »Tut mir leid wegen der Haare.«
»Ich lasse sie mir wachsen, seit ich fünfzehn bin«, heulte diese, ohne es zu merken. »Jetzt muss ich sie mir schneiden lassen, wohl oder übel.«
»Warten Sie erst einmal ab«, ermutigte sie die Kommissarin.
»Soll ich etwa mit Glatze auf der einen und ein
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