Ich versprach dir die Liebe: Roman (German Edition)
ungeahnte Aktualität. Irgendwie stellte ich mir Elle vor, wie sie mit dem Bauch nach oben verloren an der Oberfläche trieb. Vielleicht war ich es auch selbst. Körperlos und in gewisser Weise deplatziert. Ich konntemich auf nichts konzentrieren und nicht mehr vernünftig denken. Ständig redete ich mit Elle und bettelte darum, sie möge endlich wieder aufwachen. Ich wusste natürlich genau, was in ihrem Körper vor sich ging, aber ich war nicht bereit, es zu akzeptieren. Ich konnte Elles Hirndruckmonitor ablesen und die Ergebnisse verstehen, aber nur Sekunden später verlor ich mich in Fantasien – wie zum Beispiel diesen Gedanken über Aquarien.
Angeblich erlebt man kurz vor seinem Tod sein ganzes Leben noch einmal im Zeitraffer. Ich fragte mich, woran Elle gedacht haben mochte. Wie man am besten Streifen auf den Scheiben vermeidet? Ob sie das Fensterputzmittel lieber auf das Glas oder besser auf den Wischlappen sprühen sollte? Ein streifenfreies Fenster als Vermächtnis.
Oder hatte sie vielleicht über uns nachgedacht?
Laut Kübler-Ross läuft Trauerarbeit in vier Phasen ab: dem Nicht-wahrhaben-Wollen, dem Aufbrechen chaotischer Emotionen, dem Suchen, Sichfinden und Sichtrennen und schließlich dem Finden eines neuen Welt- und Selbstbezuges und damit der Akzeptanz. Für mich bedingten die ersten Phasen einander, aber akzeptieren – nein, das konnte ich noch lange nicht. Ich befand mich offenbar gerade im Stadium der chaotischen Emotionen, denn ich ärgerte mich. Ich ärgerte mich über sie und über ihren Bruder. Und über Hank. Genaugenommen war ich stinkwütend. Am liebsten hätte ich die blöde Glasscheibe mit meinen Fäusten bearbeitet, aber ein Funke Vernunft blieb mir glücklicherweise erhalten. Man hätte mich nämlich mit ziemlicher Sicherheit hinausgeworfen. Das aber hätte den Abschied von Elle bedeutet. Das wollte ich auf keinen Fall riskieren! Nur über meine Leiche! Allerdings entbehrte Letzteres nicht eines gewissen Reizes: Dann wäre ich wenigstens ebenfalls tot.
Die Fenster der Zimmer auf der Intensivstation ließen sich nicht öffnen. Das war sinnvoll, denn schon dachte ich überdie beste Möglichkeit nach, mich umzubringen. Schluss damit, Matt. Das Fenster liegt sowieso nicht hoch genug für einen Sprung.
Die Sonne ging unter, und ein runder Vollmond zeigte sich am Horizont. Finde einen Ausweg, Matt. Irgendein Wunder – eine Operation oder eine Medikation, die noch niemandem eingefallen ist. Entdecke etwas absolut Neues, und rette Elle. Etliche Jahre Ausbildung und sieben Jahre Praxis mussten doch irgendetwas bewirkt haben. Verzweifelt suchte ich nach dem Geniestreich, der mir Elle zurückbringen würde.
Schließlich machte sich eine entsetzliche Leere in mir breit. Mein Ärger verflog. Langsam ging ich in Elles Aquarium auf und ab und warf dann und wann einen Blick ins Schwesternzimmer. Keine Ahnung, was ich dort zu sehen erwartete. Vielleicht Elle? Denn dieser Körper, der hier auf dem Bett lag – das war nicht wirklich meine geistvolle Frau mit dem intelligenten Kopf und dem mitfühlenden Herzen. Ich nahm ihre Hand und setzte mich auf den orangefarbenen Stuhl neben dem Bett. Bitte, wach auf.
Einige Zeit später schaltete ich den Fernseher ein. CNN sendete wieder einmal einen Bericht zum Irak-Debakel, danach folgte etwas über ein Erdbeben in Peru. Als ich gerade wieder ausschalten wollte, erschien Elles Foto auf dem Bildschirm. Es stammte von einer Feier bei der NASA , zu der sie sich mit einem wie für sie gemachten pfirsichfarbenen Spaghettiträgerkleid so richtig in Schale geworfen hatte. Damals war ihr Haar noch länger gewesen; es reichte bis zur Mitte des Rückens. Eigentlich sah sie eher wie eine Hollywood-Schauspielerin in der Rolle der Naiven aus als nach der hochqualifizierten Wissenschaftlerin, die sie in Wirklichkeit war. War? Dachte ich tatsächlich schon in der Vergangenheit?
Ich drehte den Ton lauter.
»Nach einem Unfall wurde die ehemalige Astronautin Elle McClure in eine Klinik in Maine eingeliefert. Ein Sprecher der Familie bestätigte, dass Elle McClure Beaulieu auf der Intensivstation liegt. Genauere Untersuchungsergebnisse stehen noch aus. Die Familie bittet darum, für die Patientin zu beten.«
Ich hatte um gar nichts gebeten. Ich hatte weder eine Erklärung abgegeben noch irgendwen beauftragt, es zu tun. Ein Video ihres EVA , ihres Weltraumspaziergangs, wie wir Laien es zu nennen pflegen, erschien auf dem Bildschirm.
»Wie Sie sich vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher