Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
deine Eltern, Marion?«, fragte Mrs Rix, als ich mich nach dem Abendessen mit meinem Stift und meinem weißrosa Briefpapier, das meine Mutter mir mitgegeben hatte, neben den Kamin setzte, um den Brief fertig zu schreiben, den ich vor dem Abendessen in meinem Zimmer angefangen hatte.
»Ja, Mrs Rix. Sie wollen bestimmt wissen, wie meine Reise war«, sagte ich.
Sie schnipste mit den Fingern, und ich sah, dass sie ihre Nägel neu lackiert hatte, diesmal in einem dunklen Rot.
Meine Hand zitterte, als ich ihr das Blatt reichte.
»Auf Englisch, Marion, auf Englisch!«, sagte sie tadelnd.
»Aber … aber … warum, Mrs Rix?«
»Damit ich es auch lesen kann, natürlich!«, erklärte sie.
Ich hatte den Brief an meine Eltern selbstverständlich auf Deutsch geschrieben.
In diesem Brief standen nur positive Dinge, wie ich es auch später tun würde, denn ich wollte meine Eltern nicht merken lassen, wie unglücklich ich mich in meinem neuen Heim in England fühlte.
Ich schrieb nur schöne Sachen und nahm mir vor, es immer so zu halten.
Dies ist der Brief, den ich Mrs Rix an jenem ersten Abend in England vorlegte und den ich schließlich an meine Eltern nach Berlin schickte.
5. Juli 1939
Liebste Mama, liebster Papa,
ich bin gut in meinem neuen Heim angekommen.
Mrs Rix hat mich in London am Bahnhof Liverpool Street abgeholt und wir sind mit einem anderen Zug direkt bis nach Great Shelford gefahren.
Von dort aus nahmen wir ein Taxi zu Mrs Rix’ Haus, das in einer Straße mit vielen Bäumen liegt.
Dann hatten wir einen englischen Nachmittagstee: Tee mit Milch, der ganz gut schmeckt, und zwei sehr dünne Scheiben Weißbrot mit Tomaten und Eiern und Schnittlauch dazwischen.
So ein Brot nennt man hier in England »Sandwich«.
Danach gab es noch zwei Sorten Kuchen und anschließend ein Rosinenbrötchen mit Butter.
Nach dem Essen hat Mrs Rix mir ihr Haus gezeigt.
Danach durfte ich in den Garten gehen, der sehr schön ist. Es gibt dort einen Steingarten, einen Gemüsegarten und einen Rosengarten. Kaninchen und eine Schildkröte gibt es auch. Es ist herrlich. Wie im Paradies.
Mrs Rix ist sehr, sehr nett und freundlich zu mir. Und sie sieht gar nicht wie eine Pfarrerswitwe aus.
Sie ist sehr modisch gekleidet und sehr besorgt um mich.
Ich komme mir vor wie in den Sommerferien. Der Garten ist ein Paradies. Das Dienstmädchen ist sehr nett und sehr jung.
Ich versuche, mich verständlich zu machen. Ich werde Euch das nächste Mal noch mehr erzählen, aber es ist schöner hier, als ich erwartet hatte.
Ich muss auf Englisch schreiben, damit Mrs Rix es lesen kann. Sie muss lesen können, was ich schreibe.
Bitte schreibt mir bald zurück.
Eure Euch liebende Tochter, die immer an Euch denkt
Marion
So lautete der Brief, den ich an meine Eltern schrieb. Die Wahrheit habe ich nur meinem Tagebuch anvertraut.
Liebes Tagebuch,
heute war mein erster Tag bei Mrs Rix. Ihre Kinder sind zurzeit nicht da, aber ich freue mich auf sie. Vielleicht wird es dann besser.
Es ist ein schönes Haus und auch der Garten ist sehr schön, aber ich bin entsetzt über Mrs Rix.
Selbst Mama würde nie verlangen, einen Brief zu lesen, den ich an meine Freundinnen oder an Verwandte schreibe!
Ich denke daran, dass Mama mir immer wieder gesagt hat, ich müsse höflich sein zu allen, die ich in England treffe, und mich immer gut benehmen, und dass Papa gesagt hat, ich solle mich so verhalten, dass Mama und er stolz auf mich sein können, aber ich weiß nicht, was sie zu dieser Mrs Rix sagen würden.
Sie will allen Ernstes meine Briefe lesen, aber zum Glück weiß sie nichts von meinem Tagebuch!
Ich bin froh, dass die Tür der kleinen Kammer, in der ich heute Nacht schlafe, ein Schloss hat.
Aber das ist auch schon das einzig Gute daran.
Es ist ein Dachzimmer mit schrägen Wänden, die eigentlich weiß gestrichen sind, doch die Farbe ist an manchen Stellen abgeblättert. Es ist kein bisschen so hübsch wie die anderen Zimmer im Haus, die Mrs Rix mir gezeigt hat.
Ich habe das Gefühl, auf einem fremden Planeten gelandet zu sein, in einer anderen Welt, und dass mein ganzes Leben über Nacht auf den Kopf gestellt wurde.
Mein Bett ist hart und unbequem, und ich habe nur eine dünne Decke, um mich zuzudecken.
Oh, wie ich meine Daunendecke von zu Hause vermisse, meine Puppen, meine Spielsachen, meinen Hansi, und am meisten natürlich Mama und Papa.
Und das ist erst der Anfang.
Ich will lieber gar nicht daran denken, was der morgige Tag bringen
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