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Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport

Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport

Titel: Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: cbj Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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wird.
    Liebes Tagebuch,
    heute ist der 6. Juli 1939, mein erster ganzer Tag in England.
    Als Mrs Rix heute Morgen ausgegangen ist, hat sie mich zu dem Dienstmädchen in die Küche geschickt. Das Dienstmädchen heißt Phyllis, ist achtzehn Jahre alt und stammt aus London. Sie raucht eine Zigarette nach der anderen, hat einen komischen Akzent und nennt mich »Duckie«.
    Darauf hat mich Miss Fraser, meine Englischlehrerin in Berlin, nicht vorbereitet.
    Irgendwie glaube ich nicht, dass mir das Lied von dem mähenden Mann – »One Man Went to Mow« – hier sehr viel weiterhilft …
    Als Mrs Rix zurückkam, hat sie mich gefragt, ob ich ein schwarzes Kleid hätte.
    Da ich keines mitgebracht habe, hat sie eines aus Elizabeths Schrank geholt.
    »Es spannt überall, es ist mir zu eng, Mrs Rix«, habe ich gesagt, als ich es anprobiert habe. Es war wirklich viel zu klein für mich.
    »Rede keinen Unsinn, Marion«, hat sie gesagt. »Es ist perfekt für ein Mädchen deines Alter und deines Standes.«
    Dann band sie den Gürtel ihres pinkfarbenen Seidenkleids mit silbernen Rosen enger, und wir setzten uns in ein Taxi, das uns zu einem großen Holzgebäude brachte, das neben einer kleinen Wiese stand.
    Bei unserem Eintreten standen alle Leute auf und klatschten.
    Ich wusste nicht, was ich tun sollte, deshalb machte ich einen Knicks.
    Wieder applaudierten alle, diesmal noch lauter als zuvor.
    Mrs Rix nahm mich an der Hand und ging mit mir ans Kopfende einer langen Tafel, die mit großen Platten mit Salaten und Schinken und Hähnchen gedeckt war. Sie setzte sich und zog mich auf ihren Schoß.
    »Was für ein süßes kleines Flüchtlingsmädchen«, sagte eine Dame in einem roten Samtkleid. Sie hatte ihre silbernen Haare zu einem Knoten im Nacken zurückgebunden und kniff mich in die Wange.
    Ein süßes kleines Flüchtlingsmädchen!
    Ich wurde knallrot.
    Ich bin weder süß noch klein.
    Aber ich bin ein Flüchtlingsmädchen, das stimmt, ob es mir nun gefällt oder nicht. Und selbst wenn ich es einen Augenblick vergessen hätte, hätten mich die Leute um mich herum daran erinnert.
    »Ja«, stimmte eine große, dünne Frau mit langen gelben Zähnen in das allgemeine Gesäusel ein. »Unsere Freundin Harriet Rix ist eine wahre Heilige.«
    »Dein verstorbener Gemahl wäre sehr stolz auf dich gewesen, meine liebe Harriet«, sagte eine dritte Frau, die einen Schottenrock und eine weiße Bluse trug.
    »Danke, meine Lieben. Ich tue nur, was ich kann«, erwiderte Mrs Rix und senkte bescheiden den Blick, bevor sie begann, mir zärtlich über die Haare zu streichen.
    »Du hast wirklich großes Glück, Marion, dass Mrs Rix dich aufgenommen hat«, sagte die Dame in Scharlachrot.
    Großes Glück? Das hätte ich, wenn ich bei meinen geliebten Eltern in Berlin wäre. Und wenn wir drei wie früher zufrieden und glücklich zusammenleben könnten.
    Großes Glück? Das fand ich damals nicht. Doch wie mein Vater es mir vorgelebt hatte, hielt ich auch die andere Wange hin und schwieg.
    Damals wusste ich es noch nicht, doch später sollte ich erfahren, dass zusätzlich zu Kost und Logis, die das Refugee Children’s Committee für mich bezahlte, jeder Einwohner des Dörfchens Great Shelford, Cambridgeshire einen Penny für meinen Unterhalt gespendet hatte. Für den Unterhalt eines kleinen jüdischen Flüchtlingsmädchens.
    Und an jenem Tag waren die wichtigsten Leute von Great Shelford zu diesem offiziellen Mittagessen gekommen, um einen Blick auf das kleine jüdische Flüchtlingsmädchen zu werfen, in das sie alle einen Penny investiert hatten.
    Und um Harriet Rix zu feiern, die mich aufgenommen hatte.
    Genau so hatte sie es sich gewünscht und vorgestellt.
    Am 11. Juli 1939 war Mrs Rix unterwegs, und da konnte ich an meine Eltern schreiben und den Brief einwerfen, ohne dass sie ihn gelesen hatte.
    Liebste Eltern,
    ich bin erst seit wenigen Tagen hier, aber ich habe schon einiges über England gelernt.
    Die Engländer haben kein Namensschild an ihrer Tür, nur eine Hausnummer.
    Mittwochs sind die Geschäfte geschlossen.
    Die Kinder müssen nicht aufstehen, wenn ein Erwachsener den Raum betritt, und sie machen vor den Erwachsenen auch keinen Knicks, wenn sie am Abend zu Bett gehen.
    Und wisst Ihr, was ich am merkwürdigsten finde? Sobald das Essen auf dem Tisch steht, streuen die Engländer Salz und Pfeffer darüber, noch bevor sie es gekostet haben.
    Zum Frühstück gibt es Tee, der wie Kaffee aussieht, Toast mit Rührei oder Schinken, oder verlorene Eier.

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