Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
Kindern gesagt, die sich im Wartesaal des Bahnhofs Friedrichstraße eingefunden hatten:
»Bitte, meine Herrschaften, es ist nun an der Zeit, sich zu verabschieden. Denn es ist strengstens untersagt, dass Eltern ihre Kinder zum Bahnsteig begleiten.
Die Begleitpersonen werden Ihre Kinder ab hier übernehmen … aber Sie können und dürfen nicht … bitte haben Sie Verständnis und machen Sie uns unsere Arbeit nicht schwerer als sie ist. Sie müssen sich nun verabschieden.«
Ich weiß heute natürlich nicht mehr, was mein Vater genau zu mir gesagt hat in diesem Moment und was ich zu ihm gesagt habe. Ich weiß nur noch, dass er mich hochnahm und mich küsste und dass ich ihn auch geküsst habe.
»Nachher, im Bahnhof Zoo, Marion, schau aus dem Fenster! Ich werde dort sein und warten. Damit ich dir zuwinken kann!«, sagte er.
Es mag heute zwar seltsam klingen, doch die zweihundert Kinder, die damals mit mir in den Zug stiegen, waren nicht die einzigen Fahrgäste des Zuges. Es war ein ganz normaler Zug, dessen hintere Waggons für den Kindertransport reserviert waren.
In den anderen Waggons saßen ganz normale Berliner Bürger, die ihr normales Leben weiterlebten, entweder auf dem Weg zur Arbeit waren oder bis zur Endstation des Zugs, Rotterdam, durchfuhren.
Dieser Zug wurde zwar für den Kindertransport benutzt, doch »die da oben« hatten beschlossen, dass er gleichzeitig auch seinen üblichen Fahrplan einhalten musste, und folglich hielt er wie immer am Bahnhof jedes Stadtteils an.
Mit der U-Bahn kann man vom Bahnhof Friedrichstraße in nur sechs Minuten zum Bahnhof Zoo fahren. Und dort sollte unser Zug zum ersten Mal anhalten, um weitere »normale« morgendliche Fahrgäste aufzunehmen.
Als unser Zug in den Bahnhof Zoo einfuhr, sah ich, dass viele der anderen Eltern, die ihren Kindern gerade erst in der Friedrichstraße Lebwohl gesagt hatten, dieselbe Idee gehabt hatten wie mein Vater: Sie waren zum Bahnhof Zoo gefahren, in der Hoffnung, noch einen letzten Blick auf ihre Kinder werfen zu können, bevor diese endgültig in eine fremde Welt fahren würden.
Liebes Tagebuch,
ich musste kurz aufhören zu schreiben. Ich konnte einfach nicht weiterschreiben.
Der Zug hielt mit quietschenden Bremsen am Bahnhof Zoo an, und ich hängte mich ans Fenster und hoffte, meinen geliebten Papa noch ein letztes Mal zu sehen.
Und tatsächlich, da war er, wie durch ein Wunder, und humpelte auf meinen Waggon zu.
Ich streckte den Kopf aus dem Fenster, um ihn ein letztes Mal zu küssen, ein letztes Mal seine Wange zu streicheln, als ganz plötzlich eine Gruppe von SS -Männern mit gefährlich aussehenden Schäferhunden auf Papa zustürmte und ihn und die anderen Eltern vom Zug wegtrieb.
Voller Schrecken sah ich ihn stolpern.
Ich wollte schreien, die SS -Männer anflehen, ihm nichts zu tun, doch sie stießen ihn und die anderen Eltern unerbittlich rückwärts, weg von unserem Zug.
Eine Mutter fiel hin, eine andere wurde ohnmächtig.
Ein kleiner Junge, der ebenfalls am Zugfenster stand, schrie: »Mutti, geh nicht weg! Nimm mich mit!«
Und wenn ich gekonnt hätte, wäre ich aus dem Fenster gesprungen und zu meinem Papa gerannt.
Doch da setzte sich der Zug schon wieder in Bewegung und ich konnte Papa schon nach wenigen Sekunden nicht mehr sehen.
Ich hatte das Gefühl zu sterben. Oder bereits gestorben zu sein.
Mein letztes Bild von ihm – meinem Vater, einem großen, stattlichen, stolzen preußischen Offizier, der heldenhaft für sein Vaterland gekämpft hatte und dafür ausgezeichnet worden war – war und würde für immer das Bild sein, wie er stolperte, weil er von einem SS -Offizier vom Zug und somit auch von mir weggedrängt wurde, für immer.
7
DIE WEITE REISE
Die schreckliche Zugfahrt, die mich von Berlin wegbrachte, sollte ich mein Leben lang nicht mehr vergessen.
Es stimmt, uns erwartete ein freies und sicheres Leben. Aber auch Unsicherheit, Angst und Einsamkeit.
Liebes Tagebuch,
ich muss weiterschreiben, sonst werde ich verrückt.
Als der Zug den Bahnhof Zoo und somit auch Berlin hinter sich ließ, kam ein kleiner Junge, etwa drei Jahre alt, zu mir gelaufen. Er trug einen Matrosenanzug und zupfte mich am Rock. »Mutti?«, fragte er ratlos, und eine dicke Träne kullerte über seine Wange.
Ich beugte mich zu ihm hinunter und drückte ihm ein Küsschen auf die Wange, dann ging ich mit ihm nach nebenan in den Speisewagen und kaufte für ihn und für mich ein Schokoladeneis.
Wir haben das Eis im Gang des
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