Ich war seine kleine Prinzessin
mußte. Da beschloß ich abzuhauen. Zusammen mit meinen beiden
älteren Freundinnen Carole und Angélique, die für jede Dummheit zu haben waren.
Eine ganze Woche lang dachten wir darüber nach, wie wir es am geschicktesten
anstellen könnten. Dann hatten wir endlich einen todsicheren Plan ausgeheckt.
Wir wollten im Supermarkt gegenüber nur schnell etwas besorgen, sagten wir den
Erziehern, wir wären gleich wieder da. Gut. Wir trugen uns also in die
Ausgangsliste ein, verließen das Gebäude und kehrten nicht wieder zurück.
Wir hatten mit einem Freund verabredet,
daß er unsere Taschen aus dem Heim schmuggeln sollte, aber es gelang ihm nicht.
Irgend jemand hatte sich lieb Kind machen wollen und uns verpetzt!
Wir schlenderten stundenlang durch
Avignon. Es gibt nette kleine Straßen dort, viele Plätze, einen prächtigen
Papstpalast. Nachts sind die Straßen wie ausgestorben. Es war wunderschön, und
mir ging es richtig gut. Für mich war es das erste Mal, daß ich bei Dunkelheit
unterwegs war...
Sobald irgendwo ein Streifenwagen
auftauchte, versteckten wir uns. Wir dachten jedesmal, die wären hinter uns
her, solchen Schiß hatten wir. Am anderen Morgen wollten wir in den Zug nach
Nîmes steigen. Carole hatte uns von einem leerstehenden Haus erzählt. »Dort
können wir wohnen. Geld werden wir schon irgendwie auftreiben. Wir suchen uns irgendeine
Arbeit.«
Wir hatten an alles gedacht. Aber dann
lernten wir ein paar Jungen kennen. Sie waren schon volljährig. Wir folgten
ihnen in einen Stadtpark, wo wir übernachten wollten, und erzählten ihnen
unsere Geschichte.
»Ihr solltet ins Heim zurück, ehrlich«,
meinten sie da. »Vor allem du, Nelly. Du bist noch viel zu jung. Die Flatter
machen, das ist nicht dein Ding.« Es war vier Uhr morgens. Ich wollte aber
nicht kneifen, ich wollte die Sache wirklich bis zum Ende durchziehen. Da
packten sie mich, und einer warf mich über seine Schulter wie einen Sack
Kartoffeln. So lieferten sie mich im Heim ab. Das war ganz schön demütigend.
Als erstes fing ich mir drei Ohrfeigen
ein. »Die hast du auch verdient, meinst du nicht? Warte nur, bis deine Mutter
kommt! Die wird dir was erzählen! Tausend Ängste hat sie ausgestanden
deinetwegen. Jede Stunde hat sie hier angerufen, um zu erfahren, ob es etwas
Neues gibt. Diesmal hast du’s wirklich zu weit getrieben. Glaub ja nicht, daß
der Richter dich jetzt nach Hause gehen lassen wird.« Ich fing an zu heulen.
Das hatte ich jetzt davon!
Mama kam gegen neun. Ich stand da mit
gesenktem Kopf und zitterte am ganzen Leib. Aber die erwartete Gardinenpredigt
fand nicht statt. Mama nahm mich statt dessen in die Arme, drückte mich an
sich, küßte mich. »Mein Liebling, mein Kind, mein armer Schatz«, stammelte sie
schluchzend.
Da wurde mir klar, wie sehr sie sich um
mich geängstigt haben mußte. Ich konnte ihr vertrauen. Sie war meine Mutter.
Ich holte tief Luft und gestand ihr: »Du, Mama, von dem Geld, das du mir gibst,
kaufe ich mir Zigaretten.« Sie wollte es mir nicht glauben. Also zündete ich
mir vor ihren Augen eine Zigarette an und fing an zu rauchen.
»Wo hast du das gelernt?« fragte sie.
Im Heim natürlich, von den anderen. Ich erzählte ihr alles: daß ich Alkohol
trank und Haschisch rauchte, mir Schnittwunden an den Armen zugefügt und die
Flucht aus dem Heim zusammen mit meinen beiden Freundinnen geplant hatte. Wir
redeten stundenlang.
»Mein armer Schatz«, sagte sie. »Du
hast soviel durchgemacht. In ein paar Monaten hast du Dinge erlebt, an die ich
nicht einmal im Traum denken möchte.« Wir haben geweint und geredet. Wir hatten
eine Menge nachzuholen. Mama war mir gegenüber genauso offen. Sie vertraute mir
an, daß sie einen Freund hatte. Philippe war der Vater einer ehemaligen
Klassenkameradin. Ich kannte ihn.
Sie erzählte mir, wie sie sich
angefreundet hatten und sich im Lauf der letzten Wochen nähergekommen waren.
Auch Philippe hatte Eheprobleme, wenngleich seine eher alltäglich waren: Er und
seine Frau hatten sich einfach auseinandergelebt. Mama traf sich ziemlich oft
mit ihm. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, weil er als einziger sich in ihre
Lage hineinversetzen konnte und sie verstand. Er gab ihr Kraft in dieser
schwierigen Situation. Sie liebte ihn, und er liebte sie. Im ersten Augenblick
gab es mir trotzdem einen Stich, ich meine wegen Papa. Sie hatte ihn durch
einen anderen Mann ersetzt. Aber ich habe nichts gesagt.
Dann sprach ich wieder über mich,
darüber, wie ich mich verändert
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