Ich war seine kleine Prinzessin
eine
hochgestellte Persönlichkeit schreibt, bat ich einen Erzieher um Hilfe. Ich
setzte zwei Briefe auf: »Sehr geehrter Herr Richter, ich möchte wieder nach
Hause zu meiner Familie, weil ich es im Heim nicht mehr aushalte.« Aber ich
bekam genausowenig eine Antwort wie meine Mutter. Jeden Tag wartete ich bei der
Postausgabe gespannt darauf, daß mein Name aufgerufen wurde. Ich wartete einen
Tag und noch einen, dann eine Woche und noch eine, dann einen Monat. Nichts.
Meine Mutter hatte mich also nicht belogen. Ein Richter fühlt sich
offensichtlich nicht verpflichtet, die an ihn gerichteten Briefe zu
beantworten.
Der Sommer war da. Ferienzeit.
Normalerweise wären wir ans Meer oder in die Berge gefahren. Ich hatte langsam
wirklich Angst, sie würden mich hierbehalten. Ich fühlte mich wie eine
Gefangene unter den vielen verängstigten Kindern und den mißhandelten,
verstörten Frauen, die im Heim Zuflucht suchten. Von meinem Zimmer aus schaute
ich den Autos nach, die Richtung Süden fuhren. Mama konnte nichts für mich tun,
das war mir inzwischen klargeworden. Panik stieg in mir auf. Und irgendwann
hatte ich alles so satt, daß ich Tabletten schluckte. Ich hatte sie Isabelle,
einer Freundin, geklaut. Niemand außer mir wußte, wo sie sie versteckt hatte.
Sie nahm sie nur, damit sie besser schlafen konnte. Ich nicht. Wer wirklich
sterben will, findet immer einen Weg. Dann bin ich alle meine Probleme los,
sagte ich mir. Hier unten ist kein Platz für mich. Dort oben wird es mir
bessergehen.
Es hat leider nicht geklappt. Sie haben
mich ins Krankenhaus gebracht. Ich war schon halb im Koma. Sie haben mir den
Magen ausgepumpt und mich ins Leben zurückgeholt. »Außer Gefahr!« Sie waren
erleichtert und ich wütend, weil ich wirklich sterben wollte. Teils aus Rache,
teils aus Protest fing ich an, jede Menge Dummheiten zu machen.
Carole und Angélique, meine beiden
Zimmergenossinnen, waren mit von der Partie. Mir gefielen ihre Namen so gut,
und außerdem kamen wir prima miteinander aus. Sie waren von zu Hause
ausgerissen, weil sie es einfach nicht mehr ausgehalten hatten. Carole war
groß, rotblond und hatte eine tolle Figur. Angélique war klein, mit dunklen
Locken, und immer zu Späßen aufgelegt. Sie waren zwei Jahre älter als ich. Im
Lauf der Zeit waren wir richtige Freundinnen geworden.
Wir tranken Alkohol zusammen und
rauchten Haschisch. Ja, sogar in einem Heim kommt man an welches ran, wenn man
das möchte. Aber von dem Zeug sollte man besser die Finger lassen. Wir drehten
uns einen Joint, um unsere Probleme zu vergessen, der Wirklichkeit zu
entfliehen. Manchmal gingen wir auch in die Stadt. Mittwochs hatte ich
Ausgangserlaubnis, und dann trampten wir nach Avignon. Oder wir gingen zu Fuß,
wenn uns keiner mitnahm. In Avignon lernten wir einige Jungs kennen. Sie waren
älter als wir und besorgten uns Haschisch. Ich brauchte nicht mal dafür zu
bezahlen. Sie verlangten auch sonst nichts von mir. Eigentlich hätte ich genausogut
darauf verzichten können, aber wenn ich welches hatte, rauchte ich es auch.
Das mit dem Alkohol und den Drogen war
totaler Quatsch, bloß eine andere Form der Selbstzerstörung. Aber dadurch
gelang es mir, wenigstens für eine Weile alles hinter mir zu lassen. Die
häßlichen Erinnerungen auszulöschen. Damals begann ich auch, mich selbst zu
verstümmeln. Mit einem Messer oder mit den scharfen Rändern von Bierdosen
brachte ich mir Schnittwunden an den Armen bei. Die Narben sieht man heute
noch. Ich war nicht mehr ich selbst. Ich war nicht mehr Nelly, das liebe kleine
Mädchen, die behütete Quintanerin. Der Wildfang, der durch den Wald streifte
und auf Bäume kletterte. Ich war jetzt ein verwahrlostes Gör aus dem Heim. Ich
rutschte ab, verlor den Halt.
Es gab Tage, da spielte ich den
Säugling. Ich weigerte mich, etwas anderes als Flaschennahrung zu mir zu
nehmen. Und ich hatte ständig einen Schnuller im Mund. Ich entwickelte mich
zurück zum Kleinkind. Ich weinte und schrie nach meiner Mama. Dann wieder malte
ich mich mordsmäßig an und machte einen auf scharfe Braut.
Ich war total von der Rolle. Weil ich
von meinem eigenen Vater vergewaltigt worden war. Weil man mich in dieses Heim
gesteckt hatte und verwahrte wie eine Gefangene. Und das schon seit zwei
Monaten.
Ich war überzeugt, daß ich nie wieder
nach Hause kommen würde. Hatte ich nicht etwas getan, wofür ich bestraft werden
mußte? Wen ich auch fragte, niemand konnte mir sagen, wie lange ich noch im
Heim bleiben
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