Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich war seine kleine Prinzessin

Ich war seine kleine Prinzessin

Titel: Ich war seine kleine Prinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly
Vom Netzwerk:
Hölle gewesen. Wahrscheinlich wäre ich
irgendwann übergeschnappt. Ich hatte ja längst begriffen, daß ich für meinen
Vater nur ein Gegenstand, ein Lustobjekt gewesen war. Er sah in mir weder ein
Kind noch eine Frau, sondern lediglich ein Ding. Und er hätte mit Sicherheit
irgendwann den Blick für die Wirklichkeit ganz verloren. Diese Geschichte wäre
immer schmutziger, immer abartiger geworden. Als mir das bewußt geworden war,
bedankte ich mich bei meiner Lehrerin. Und ich dachte: Was für ein Idiot bin
ich doch gewesen! Was für ein Idiot! Warum hab’ ich mir das gefallen lassen von
meinem Vater! Warum hab’ ich mich nicht gewehrt! Dann wäre alles anders
gekommen. Ich wäre wie alle anderen Mädchen und hätte noch ein Zuhause.
    Der Gedanke, daß sich die Dinge anders
entwickelt hätten, wenn ich nur den Mund aufgemacht hätte, ließ mich nicht mehr
los. Ich bereute mein Schweigen zutiefst. Andererseits, so sagte ich mir, hatte
ich keine Wahl gehabt: Mein Vater hätte mich verprügelt, wenn ich es gewagt
hätte, mich ihm zu widersetzen.
    Nach zahllosen Gesprächen mit meiner
Lehrerin und mit meiner Mutter sah ich die Dinge in einem anderen Licht.
Steinchen für Steinchen setzte sich ein neues Bild zusammen. Mir wurde
beispielsweise klar, wie mies sich mein Vater meiner Mutter, aber auch Laury
und Sandy gegenüber benommen hatte. Und daß er mich benutzt hatte, um Mama
kaputtzumachen. Er hätte das Gewehr nehmen und sie erschießen können. Statt
dessen benutzte er mich. Er hatte ein raffiniertes Spiel getrieben. Die
Erkenntnis kam nicht von heute auf morgen, es brauchte lange, bis ich die
Zusammenhänge durchschaute. Genau da liegt das Problem beim Kindesmißbrauch:
Das Kind ist nicht in der Lage, das Erlebte zu verstehen und seine
Wahrnehmungen richtig einzuordnen. Deshalb reagiert es nicht. Die Situation ist
zu kompliziert, zu abartig, zu unwahrscheinlich. Wer kann sich schon
vorstellen, daß ein Vater vorsätzlich seine kleine Tochter quält? Daß er sie
zerbricht wie eine Puppe, die er wegwerfen will? Daß er den Ärger über seine
unglückliche Ehe an seinem Kind ausläßt?
     
    Es wurde Mai, dann Juni. Die Wochen
vergingen, eine so eintönig wie die andere. Sie brachten nur schlechte
Nachrichten. Eines Tages teilte meine Mutter mir mit: »Leila ist fort. Sie
haben sie uns weggenommen. Das Jugendamt will eine neue Familie für sie
suchen.« Ich brach in Tränen aus. Warum wurden wir schon wieder bestraft? Ich
hatte die Kleine so lieb gehabt.
    Es ging wirklich alles schief. Meine
Mutter war pleite. Sie wußte nicht mehr, wo sie das Geld hernehmen sollte, um
die Familie durchzubringen. Ein eigenes Einkommen hatte sie ja nicht. Zum Essen
ging sie mit Laury und Sandy zu einer von meinen Tanten. Ich gab mir auch dafür
die Schuld. Wir standen nicht mehr am Rand des Abgrunds, wir waren schon
hinuntergefallen. Und niemand half uns aus unserer Not. Trotz allem waren wir
fest entschlossen, die Krise zu bewältigen und wieder eine richtige Familie zu
werden. Die erzwungene Trennung empfanden wir als eine Ungerechtigkeit, die wir
nicht hinnehmen konnten. Wir wollten noch einmal ganz von vorn beginnen, auf
einer soliden Grundlage.
    Irgendwann sagte Mama zu mir: »Ich habe
die Scheidung beantragt. Und ich werde dich hier rausholen.«
    Es gab nur einen Weg, der aus dem Heim
hinausführte: über den Jugendrichter. Die Entscheidung lag bei ihm allein. Mama
hatte ihm mehrmals geschrieben, aber nie eine Antwort bekommen. Keine Antwort,
keine Entlassung! Niemand konnte mir sagen, wie lange ich noch im Heim würde
bleiben müssen. Doch hoffentlich nicht bis zur Volljährigkeit? Das wären noch
sechs Jahre! Mich packte die Angst, wenn ich daran dachte. Ich machte mich aufs
Schlimmste gefaßt.
    Mama hatte ein schlechtes Gewissen,
weil es ihr nicht gelang, mich aus dem Heim zu holen. Und mir kamen manchmal
Zweifel. Ich wurde mißtrauisch und fragte mich: Hat sie dem Richter wirklich
geschrieben? Vielleicht will sie gar nicht, daß ich entlassen werde. Vielleicht
hat sie mich die ganze Zeit belogen.
    Wir hatten uns zwar versöhnt, Mama und
ich, aber es war alles noch ganz frisch und zerbrechlich. Ich konnte einfach
nicht glauben, daß der Brief einer Mutter an einen Richter unbeantwortet blieb.
Deshalb beschloß ich, auf eigene Faust zu handeln und selber einen Brief zu
schreiben. Ich ging in die Quinta, aber Rechtschreibung war nicht gerade meine
Stärke. Da es einen Unterschied macht, ob man an einen Freund oder an

Weitere Kostenlose Bücher