Ich war seine kleine Prinzessin
niemand etwas merkte. Ich versuchte zu verdrängen, so gut es ging.
Ich wollte stark sein, wollte den Eindruck erwecken, daß ich alles verarbeitet
und verkraftet hatte. Wenn ich gesagt hätte: »Ich kann nicht mehr«, wenn ich
zusammengebrochen wäre, hätte ich meine Mutter mit hinabgezogen, weil ihr die
Kraft fehlte, uns beide aufzufangen. Ich mußte durchhalten, schon den anderen
zuliebe, die soviel schwächer waren als ich.
Ich dachte an meine Schwester Sandy.
Wenn er ihr das alles angetan hätte? Ich komme schon irgendwie drüber weg, ich
schaff 1 das schon, auch wenn es nicht immer leicht ist, sagte ich
mir. Aber sie? Sie hätte es nicht verkraftet, das steht fest. Und wenn meinem
Vater mehr Zeit geblieben wäre, hätte es auch für mich sehr viel schlimmer
geendet. So hatte er nur einen Teil von mir zerstört, aber nicht alles. Wäre es
jedoch noch lange so weitergegangen, hätte er mich vollends kaputtgemacht.
Eine kaputte
Familie
Von einem Erlebnis, wie ich es hatte,
erholt man sich nicht mehr. Hinzu kommt, daß die ganze Familie in
Mitleidenschaft gezogen wird. Alles, restlos alles ändert sich...
Ja, genauso war es: Mein Leben hatte
sich radikal geändert. Ich brachte es nicht mehr fertig, mit Gleichaltrigen zu
spielen oder mit ihnen zu reden. Sogar meine Cousins und Cousinen waren mir
fremd geworden: Sie sahen mich mit anderen Augen, und ich wußte mit ihnen und
ihren Spielen nichts mehr anzufangen. Ich war schmutzig, ich schämte mich viel
zu sehr. Meine Geschichte stempelte mich zur Außenseiterin. Ich lebte in einer
anderen Welt, einer Welt jenseits der Vorstellungskraft.
Nach so einem Erlebnis stürzt alles
ein, nicht nur in einem selber, sondern auch ringsumher. Man ist ganz allein,
auf sich selbst gestellt, niemand hilft einem, niemand sagt einem, wie es
weitergeht. »Sie lassen uns einfach hängen«, beklagte sich Mama immer wieder.
Es gibt nichts, woran man sich festhalten könnte, keinerlei
Orientierungshilfen. Man wird aufgefordert, jeden Fall von Kindesmißbrauch
anzuzeigen. Das ist auch richtig. Aber hinterher kann man sehen, wie man
zurechtkommt! Das finde ich einfach ungerecht. Hier müssen noch viele Lücken
geschlossen werden.
Nach meiner Entlassung aus dem Heim hat
uns keine einzige Sozialhelferin besucht. Es gab lediglich die Aide en Milieu
Ouvert (AMO): ein vierzehntägiges Treffen mit einem Pädagogen, bei dem über
dies und jenes geplaudert wurde. Angesichts unserer Sorgen und Schwierigkeiten,
unserer materiellen und seelischen Notlage war das herzlich wenig.
Der Inzest ist etwas schwer
Verständliches, zu viele Dinge werden in Frage gestellt. Das ist auch mit ein
Grund, weshalb ich dieses Buch geschrieben habe: weil ich zeigen möchte, was
verbessert werden müßte, welche Fehler durch Beratung und Unterstützung
vermieden werden könnten. Das einzige, womit man in Fällen wie meinem nämlich
rechnen kann, ist Ablehnung und Einsamkeit.
Anfangs versuchten Mama, Laury, Sandy
und ich, unser altes Leben wiederaufzunehmen. Wir kehrten in unser Haus im Wald
zurück, weil wir keine andere Bleibe hatten. Niemand im Ort war bereit, uns
aufzunehmen (Großmutter Mireille kümmerte sich ja bereits um ihren Sohn), und
zum Wegziehen fehlte uns das Geld. Aber wir konnten nicht in unserem Häuschen
bleiben. Unmöglich. Zu viele schmerzliche Erinnerungen stürmten dort auf mich
ein. Wie sollte ich da vergessen können? Dabei liebten wir es doch so, unser
kleines Haus!
Und wir scheuten wirklich keine Mühe.
Als erstes wechselte Mama mein Bettzeug aus: Lattenrost, Matratze, Bettwäsche,
Kissen, Decke, alles. Sie schüttete Benzin darüber und zündete es an. Meine
Geschwister und ich standen um den brennenden Haufen herum und sahen zu, wie
unsere Vergangenheit in Rauch aufging. Genützt hat es nicht viel, denn meine
Erinnerungen sind nicht mit verbrannt. Sie hielten sich hartnäckig in meinem
Kopf.
Daraufhin hat Mama mich in einem
anderen Zimmer einquartiert. Sie wollte nicht, daß ich da schlafe, wo ich von
meinem Vater vergewaltigt worden war. Auch das hat nichts geholfen. Ich hatte
das Gefühl, er ist da, im Zimmer. Er kommt auf mich zu. Er legt sich auf mich.
Er ist so schwer. Ich bekomme keine Luft mehr. Immer und überall sah ich meinen
Vater. Ich durchlebte alles noch einmal. Wo ich mich auch aufhielt, was ich
auch machte, er war immer da. Es gab kein Entrinnen. Das ganze Haus war von ihm
durchdrungen, von seiner Stimme, seinem Atem — von den Dingen, die er mir
angetan
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