Ich war seine kleine Prinzessin
sein, zu
kämpfen, schon den anderen zuliebe. Ich wollte leben. Ich mußte leben. Für uns
alle. Und Mama versprach ihrerseits, in Zukunft die Finger von Schlaftabletten
zu lassen.
Wenn man so ganz auf sich allein
gestellt ist und niemanden hat, der einem mit Rat und Tat zur Seite steht, kann
alles mögliche passieren. Man ist leicht zu beeinflussen und geneigt, alles zu
glauben, was einem erzählt wird.
Uns Kindern zuliebe hielt meine Mutter
den Kontakt zu unseren Großeltern aufrecht. Jedesmal, wenn Mama sie besuchte,
übte meine Großmutter Druck auf sie aus. Mireille folgte ihrem Herzen, hatte
aber keine Ahnung von Psychologie. Sie behauptete, Sandy und Laury brauchten
ihren Vater. Egal, was passiert sei, er bliebe nun einmal der Vater. Und der,
fügte sie hinzu, habe auch ein Recht darauf, seine Kinder zu sehen.
Zu guter Letzt erklärte sich Mama damit
einverstanden, daß Laury und Sandy ihren Vater an den Wochenenden bei
Großmutter besuchten. So wie nach einer Scheidung. Rechtlich stand dem nichts
im Wege. Meine Geschwister waren allerdings nicht sonderlich begeistert von
dieser Regelung. Vor allem Sandy hatte Angst, was verständlich war.
Im Dorf meines Vaters begannen einige,
sich das Maul über uns zu zerreißen. Die ganze Sache kam ihnen höchst
merkwürdig vor. Mein Vater war, nachdem er nur vier Tage im Gefängnis gewesen
war, noch immer auf freiem Fuß, und er durfte seine Kinder sehen. Er spazierte
täglich durchs Dorf oder kehrte in der Kneipe ein. Er machte einen
sympathischen Eindruck. So schlimm konnte das, was er mit mir gemacht hatte,
nun wirklich nicht gewesen sein. Und außerdem war er ständig mit irgendwelchen
Kumpels zusammen, denen er erzählen konnte, was ihm in den Kram paßte.
Eines Tages kam meiner Tante folgendes
zu Ohren: »Das wäre doch alles nicht passiert, wenn die Mutter nicht so eine
elende Schlampe wäre! Und dabei ist er so ein anständiger Kerl. Man sieht ihm
an, wie er unter der ganzen Sache leidet. Und die Kleine, die Nelly, das ist
doch ein ausgekochtes Luder...«
So fing es an. Mit solchen gemeinen
Unterstellungen. Meine Mutter und ich schwiegen dazu. Wir ließen die Leute
reden. Getratscht wird immer. Und wir wollten nichts als vergessen. Aber dann
verstärkten sich die Gerüchte. Einige meiner Klassenkameraden hatten im Dorf
meines Vaters von der Geschichte Wind bekommen. Bis dahin hatte niemand in
meiner Klasse etwas von meiner Vergangenheit gewußt. Jetzt fingen sie natürlich
an, mich auszufragen. Zum Schluß gestand ich ihnen, daß das wahr war, was sie
gehört hatten: daß ich von meinem Vater vergewaltigt worden war.
Danach wurde die Sache immer mehr
aufgebauscht. »Da ist bloß die Kleine schuld dran«, hieß es im Dorf. »Die hat
ihren Vater doch angemacht!« Sicher, ich mit meinen zwölf Jahren hatte meinen
Vater verführt! Da ich mich sowieso schon ein bißchen schuldig fühlte, gab mir
das den Rest. Ich war völlig durcheinander. Was hätte ich denn tun sollen?
fragte ich mich immer wieder.
Meine Großmutter stellte sich auf die
Seite ihres Sohnes. »Dein Vater kann nichts dafür, weißt du«, verteidigte sie
ihn. »Bei ihm hat es irgendwie ausgesetzt. Aber du, du hättest doch den Mund
aufmachen können! Warum hast du denn nie etwas gesagt? Vielleicht warst du ja
damit einverstanden?...« Das tat unbeschreiblich weh. Wie konnte meine eigene
Großmutter so etwas denken? Wie konnte überhaupt jemand so etwas denken? Dieser
Klatsch machte mich ganz krank. In gewisser Weise war das schlimmer als der
Mißbrauch selbst, weil man mir die Schuld dafür gab. Und das war mehr, als ich
verkraften konnte.
Niemand hörte mir zu, niemand glaubte
mir. Ich war ja nur ein kleines Mädchen. Da habe ich meinen Vater wirklich
gehaßt. Nicht genug damit, daß er mich vergewaltigt hatte, gab er mir jetzt
auch noch die Schuld daran. Er stellte sich als Opfer seiner Tochter dar,
dieser kleinen Schlampe.
Es war eine verkehrte Welt. Und es ging
noch weiter. Das Gerede der Leute verstummte nicht, im Gegenteil, es wurde
immer schlimmer. Dann hatte es sich meine Großmutter in den Kopf gesetzt, ein
Treffen zwischen meinem Vater und mir zu arrangieren. Um der Familie die
Schande zu ersparen, vor Gericht erscheinen und aussagen zu müssen, wollte sie
die Angelegenheit auf diese Weise aus der Welt schaffen. Sie war der Ansicht,
eine Begegnung mit meinem Vater sei vielleicht auch für mich ganz hilfreich. Er
sei immerhin mein Vater, sagte sie, und — er brauche mich! Das war
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