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Ich war seine kleine Prinzessin

Ich war seine kleine Prinzessin

Titel: Ich war seine kleine Prinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly
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verletzt, so wie man es bei den
Schießereien im Film immer sieht. Ich konnte weder eine Schußwunde noch Blut an
einem von uns entdecken. Wir waren nicht tot. Ich fiel auf die Knie.
    »Es ist nichts passiert. Es ist nichts
passiert!« Ich zitterte wie Espenlaub. Im Fußboden war ein großes Loch. Was
würde Mama wohl dazu sagen? Ich stellte das Gewehr an seinen Platz zurück, wie
ein kleines Mädchen, das etwas angestellt hat und es vertuschen will. Wir
warteten. Im Treppenhaus war alles still. Papa klopfte nicht an unsere Tür.
Keiner von uns sagte etwas. Wir schauten uns an. Uns dröhnten die Ohren vom
Krachen des Schusses. Nach einer Weile stand ich auf und ging ans Fenster. Der
Renault parkte noch immer auf der Straße unten. Ich betrachtete ihn genauer.
Jetzt erst sah ich, daß es gar nicht Omas Auto war... Renault 5 fahren
schließlich viele herum.
    Da begriff ich, daß wir alle den
Verstand verloren hatten, daß wir komplett verrückt waren. Seit einem Jahr
machten wir uns etwas vor, spielten Theater, weil wir keine andere Wahl gehabt
hatten. Irgendwie mußte das Leben ja weitergehen... Dabei war das dunkle
Kapitel längst nicht abgeschlossen, wie wir uns eingeredet hatten. Wir hatten
alles mit äußerster Willensanstrengung verdrängt. Aber eine Kleinigkeit
genügte, es von neuem aufbrechen zu lassen. Die Angst war nach wie vor da.
Angst, er könnte zurückkommen und alles würde von vorn beginnen.
    Es war ein Fehler gewesen,
hierzubleiben, das war mir jetzt klar. Wir hatten unsere Kräfte überschätzt.
Aber wohin hätten wir gehen sollen, ohne Geld, ohne Arbeit, ohne Beziehungen,
ohne einen Menschen, der uns weitergeholfen hätte? Wohin hätten wir fliehen
können? Manchmal läßt das Leben einem eben keine Wahl, sondern stellt einen
schlicht vor vollendete Tatsachen.
    Als Mama nach Hause kam, fand sie uns
in Tränen aufgelöst vor. Seit meiner Entlassung aus dem Heim hatte ich noch nie
solche Todesangst ausgestanden. Diese Angst, mein Vater könnte kommen und mich
holen, würde ich nie mehr loswerden, das wußte ich jetzt. Der Gedanke quälte
mich Tag und Nacht. Ich fand keine Ruhe mehr. Ich wollte sterben, ich hatte
alles so satt. Es wird sich nie etwas ändern, dachte ich, und so kann ich nicht
weiterleben. Da habe ich zum zweitenmal Tabletten geschluckt.
    Unser Umzug vor einem Jahr war wir in
großer Eile vor sich gegangen. Mama hatte Hals über Kopf die Koffer gepackt. In
einem entdeckte ich Medikamente. Mama hatte nicht mehr daran gedacht und sie
deshalb auch nicht weggeräumt. Der Koffer lag unter dem Bett. Ich zog ihn
hervor, klappte den Deckel auf, nahm wahllos eine ganze Handvoll Tabletten
heraus und schluckte sie alle auf einmal. Aber im Gegensatz zu meinem ersten
Selbstmordversuch fing ich an zu weinen, kaum daß ich sie hinuntergeschluckt
hatte. Ich weiß auch nicht, warum. Ich blickte mich um und dachte: Dort oben
gibt es keine Mama, keinen Laury, keine Sandy.
    Damals im Heim hatte ich wirklich
sterben wollen. Aber jetzt... Jetzt war ich nicht mehr allein, denn wir hatten
es trotz allem geschafft, wieder eine richtige kleine Familie zu werden. Eine
Familie, die zusammenhielt. Wir hatten uns, und das war doch schon sehr viel.
Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf. Und da begann ich zu würgen, ich
wollte sie nicht mehr in mir drin haben, diese Tabletten. Das hat mir das Leben
gerettet...
    Als ich auf der Kinderstation des
Krankenhauses in Avignon aufwachte, saß meine Mutter an meinem Bett. Diesmal
gab sie mir eine Ohrfeige. Sie hatte schreckliche Angst um mich ausgestanden.
Ich war schon halb im Koma gewesen. Ich versprach ihr hoch und heilig, so etwas
nie wieder zu tun. Sich mit dreizehn umbringen zu wollen, war ja wirklich
idiotisch. Außerdem war mir nach den Magenspülungen endgültig die Lust dazu
vergangen. Mama glaubte mir. Die Ärzte zeigten sich skeptischer. Sie wollten
mich zur weiteren Behandlung in eine Spezialklinik einweisen. Ich würde zuviel
an den Tod denken, ich sei selbstmordgefährdet, meinten sie. Das sei bei Opfern
sexuellen Mißbrauchs oft der Fall. Ich weigerte mich, dorthin zu gehen. Das
erinnerte mich zu stark an das Heim.
    Meiner Mutter und mir wurde klar, daß
wir endgültig einen Schlußstrich ziehen und den Tatsachen ins Auge sehen
mußten. Wenn wir es diesmal nicht packten, würden wir die ganze Familie mit in
den Abgrund reißen. Diese Familie, die sich doch gerade erst gefunden hatte.
Wieder einmal ruhte die Verantwortung auf mir. Ich beschloß, stark zu

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