Ich war seine kleine Prinzessin
vollkommen
verrückt, absolut lächerlich, aber nicht für meine Großmutter. Sie fand das
normal. Und ich tat, was sie von mir verlangte. Sie war ziemlich autoritär,
auch meiner Mutter gegenüber. Sie hatte schon immer einen starken Einfluß auf
die Familie gehabt. Und ich mochte sie trotz allem gern. Ich wollte sie nicht
verärgern. Schließlich, so sagte ich mir, will sie ja nur unser Bestes.
Ich hatte meinen Vater das letzte Mal
auf dem Polizeirevier gesehen, als wir uns im Flur begegnet waren und unsere
Blicke sich getroffen hatten. Das war über ein Jahr her. Zu meinem Schutz war
ihm per Gerichtsbeschluß verboten worden, Kontakt zu mir aufzunehmen. Trotzdem
wollte er mich jetzt sehen. Vielleicht, um sich zu entschuldigen, mir zu sagen,
das alles sei nicht meine Schuld? Ich hoffte auf diese Geste seinerseits, und
zwar vor Zeugen, damit ich rehabilitiert wäre. Nur aus diesem Grund ging ich
hin. Und weil ich ihm ins Gesicht sagen wollte: »Papa, du mußt etwas tun, damit
das Gerede aufhört! Die Leute sagen, ich hätte dich verführt, sie geben mir die
Schuld an allem. Das darfst du nicht zulassen. Du bist doch verantwortlich
dafür, daß alles so gekommen ist. Also steh jetzt auch dazu!« Das wollte ich
ihm sagen, in der Hoffnung, ihn dazu zu bewegen, die Verantwortung für sein Tun
zu übernehmen. Ich Einfaltspinsel!
Als ich vor ihm stand, brachte ich kein
Wort heraus. Genau wie früher. Das Treffen, das bei meiner Großmutter
stattfand, war eine einzige Katastrophe. Ich hatte wieder einmal meine Kräfte
überschätzt. Es hatte sich nichts geändert: Er war der Erwachsene, ich das
Kind. Die Wunde war noch zu frisch. Ich traute mich nicht einmal, ihm in die
Augen zu sehen. Ich kam mir so klein und unbedeutend, so entsetzlich dumm vor.
Ich schämte mich. Ich fühlte mich schmutzig. Ich spürte wieder diesen Klumpen
in meinem Bauch. Ich stand da wie gelähmt und stumm wie ein Fisch.
Mein Vater sagte: »Ich wollte das alles
nicht, ich wollte dir nie weh tun, weißt du.« Das war seine ganze
Entschuldigung. Er bat mich nicht um Verzeihung, sagte nicht, daß es ihm leid
tue. Er fragte nicht, wie es mir ging. Er unternahm keinen Versuch, sein
Verhalten zu erklären. Er wollte nur wissen: »Liebt deine Mutter mich noch?
Wird sie zu mir zurückkommen? Ich habe sie nämlich sehr lieb, mußt du wissen.«
Ich antwortete nicht. Ich verstand
überhaupt nichts mehr. Ich sprach ihn nicht auf das Gerede der Leute an, ich
schrie ihm nicht ins Gesicht, was ich von ihm dachte... Ich hatte nur Angst.
Was er über meine Mutter sagte, daß er sie noch immer liebe und so, das war mir
völlig schnuppe. Das war sein Problem. Ich war nur gekommen, um ihn aufzufordern,
nicht länger solchen Blödsinn über mich zu verbreiten und den Leuten lieber zu
sagen: »Nelly ist keine kleine Schlampe.« Deshalb war ich gekommen und weil ich
meinen Großeltern, die ich beide gern hatte, einen Gefallen tun wollte.
Ich wäre besser zu Hause geblieben. Das
hätte mir die Enttäuschung und den Schmerz erspart. Selbst meine Großeltern
kamen mir verändert vor. Als ob sie mich nicht mehr lieb hätten. Ich bemerkte
ihre vorwurfsvollen Blicke. Sie nahmen mir die ganze Sache sehr übel. Zutiefst
erschüttert fuhren Mama und ich wieder heim.
Mein Vater befand sich zu jener Zeit in
ärztlicher Behandlung. Er nahm Tabletten ein. Er wirkte irgendwie kindlich,
hilflos, so als wäre er nicht ganz zurechnungsfähig. Ich traf mich noch zweimal
mit ihm, und er machte jedesmal diesen Eindruck auf mich. Warum ich mich zu
diesen Treffen bereit erklärte? Vielleicht, weil ich Mitleid mit ihm hatte.
Oder weil ich immer noch auf ein Wunder hoffte, darauf, daß er seine Schuld
endlich öffentlich zugeben würde.
Heute glaube ich nicht mehr an Wunder.
Bei jeder dieser drei Begegnungen blieb ich stumm. Ich konnte ihm weder in die
Augen sehen noch ihm ins Gesicht sagen, daß er mein Leben kaputtgemacht hatte.
Es gelang mir nicht, meine Hemmungen zu überwinden. Nach den drei Versuchen
hatte ich die Nase voll. Es nützte ja doch nichts. Es kam nichts dabei heraus,
außer daß es mir weh tat. Mein Vater war sichtlich niedergeschlagen, als ich
ihm schließlich sagte: »Ich will dich nie mehr wiedersehen.«
Meine Geschwister setzten ihre Besuche
bei den Großeltern fort. Rechtlich gesehen, war nichts dagegen einzuwenden, daß
sie ihren Vater regelmäßig trafen. Lind da meine Großeltern stets dabei waren,
war Mama beruhigt. Am Sonntagabend holte sie Laury und
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