Ich war seine kleine Prinzessin
gewohnten
Umgebung reißen wollen), ich Gymnastikunterricht hatte (den ich nicht aufgeben
wollte, weil es mir soviel Spaß machte), Freunde von mir wohnten, wir
einkauften und früher Bekannte gehabt hatten. Trotz allem, was passiert war,
wollten wir die alten Gewohnheiten nicht aufgeben. Das Dorf war auch unser
Dorf, unsere Heimat. Dort spielte sich unser Leben ab.
Anfangs hatte ich dauernd an meinen
Vater gedacht, wenn ich dorthin fuhr. Das war jetzt nicht mehr der Fall.
Unbewußt glaubte ich daher, ich wäre endlich darüber weg. Fast hätte ich mir
gesagt: Siehst du, Nelly, irgendwann erholt man sich sogar von so einem Schlag.
Denkste! Es sollte sich etwas ereignen, das mir endgültig meine Illusionen
raubte. Heute weiß ich: Wer Opfer eines Inzests wurde, erholt sich nie mehr
davon.
Diese schreckliche Geschichte, die
alles wieder aufwühlte trug sich ein gutes Jahr nach der Sache damals zu. Sandy
stand daheim am Fenster und schaute auf die Straße hinaus. Es war ruhig in der
Wohnung. Mama war einkaufen gegangen. Laury und ich saßen vor dem Fernseher.
Plötzlich schrie meine Schwester ganz aufgeregt: »Nelly! Nelly! Da ist Papa! Da
ist Papa!«
Zu Tode erschrocken, fuhr ich hoch.
»Was soll das heißen? Wo ist Papa?«
»Da! Da draußen! Sieh doch nur!« Ich
eile ans Fenster und sehe den Renault 5 von Oma Mireille draußen stehen, mit
dem mein Vater immer herumgefahren ist. Papa!
Mit einem Schlag kam alles wieder hoch.
Ich sah sein Gesicht vor mir. Die Szene in meinem Zimmer damals, beim ersten
Mal, lief wie ein Film vor mir ab: wie er mich aufs Bett drückte, mich auszog,
sich auf mich legte... Es tat so weh, daß ich am liebsten laut geschrien hätte...
Die ohnmächtige Wut, die Scham... Das Blut zwischen meinen Beinen... Meine
Flucht ins Bad, wo ich mich gründlich gewaschen hatte...
»Papa ist da!« Sandys Schrei, der
Anblick des Renault 5 draußen auf der Straße, das hatte genügt, um die
Vergangenheit wachzurufen. Ich zitterte am ganzen Körper, solche Angst hatte
ich. Sandy schrie in einem fort, und mein Bruder heulte. Die Bilder
verschwammen ineinander: mein Vater, die Vergewaltigung, Sandy, Laury... Ich
sah all das, was ich seit über einem Jahr zu vergessen versuchte, wieder vor
mir. Es war, als mißbrauchte er mich noch immer, als hätte es nie aufgehört.
Ich fürchtete, er würde jeden Augenblick die Treppe heraufkommen, um mich
abermals zu vergewaltigen, um mich zurückzuholen: »Los, pack deine Sachen. Wir
hauen ab. Wir gehen ins Ausland und heiraten. Wir sind doch ein Liebespaar, so
wie Romeo und Julia... Eine ausweglose Liebe verbindet uns.« Papa mit seinen
krankhaften Ideen. Meinetwegen war er gekommen. Und ich stand da, vor Angst wie
gelähmt, und stammelte: »Ich komme, Papa. Ich bin doch dein kleines Mädchen.
Ich muß dir gehorchen. Aber laß Sandy in Ruhe, Papa... Du darfst nicht
rumbrüllen und uns nicht schlagen...« Diese Szene spielte sich in dem
Augenblick in meinem Kopf ab.
Meine Mutter hatte die Jagdgewehre
meines Vaters behalten und in einem Wandschrank vor uns versteckt. Ich hatte
das Versteck schon längst entdeckt. Ich hörte Laury rufen: »Papa kommt!« Ohne
mir dessen bewußt zu sein, ging ich zum Schrank und nahm ein Gewehr heraus.
»Papa kommt!« Die Worte klangen in meinen Ohren. Ich hatte das Gewehr noch nie
angefaßt, seit Mama es im Schrank versteckt hatte. Aber in diesem Moment
handelte ich, ohne nachzudenken. Mechanisch öffnete ich die Schranktür, tastete
nach der Waffe, nahm sie heraus. »Papa kommt!« Ich war wie von Sinnen, wie in
Trance. Dieser Mistkerl! Wagte es hierherzukommen, wo ich gerade drüber weg
war, gerade angefangen hatte so zu tun, als sei nichts gewesen. »Papa kommt!«
Wir führten uns wie die Verrückten auf, alle drei: Sandy kreischte wie am
Spieß, Laury wälzte sich am Boden, und ich hielt das Gewehr umklammert. Panik.
Blanker Haß. Ich hatte geglaubt, das alles läge hinter mir, sei längst begraben
und vergessen. Statt dessen lauerte es dicht unter der Oberfläche, frisch wie
eh und je.
Der Schuß ging von ganz alleine los.
Ein ohrenbetäubendes Krachen. Mein Bruder erstarrte. Meine Schwester auch. Und
ich stand da wie versteinert und konnte es nicht fassen. Eine panische Angst
packte mich. Hatte ich Laury getötet? Oder Sandy? Oder mich selbst verletzt?
Aber ich spürte keinen Schmerz. Ganz vorsichtig bewegte ich den Kopf,
betrachtete meinen Bruder, meine Schwester, schaute dann an mir selbst
hinunter. Nichts. Keiner von uns war
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