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Ich war seine kleine Prinzessin

Ich war seine kleine Prinzessin

Titel: Ich war seine kleine Prinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly
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zu vergessen, was mein Vater mir angetan hatte. Manchmal mußte ich aber
doch wieder daran denken, wenn ich zum Beispiel niedergeschlagen war oder, was
sehr weh tat, sah, daß meine Mutter erneut zu Tabletten griff. Die Erinnerungen
kamen auch hoch, sooft ich meinen Bruder anschaute. Er war zart und schmächtig,
ein verschüchterter kleiner Junge. Einmal fand ich ihn nach der Schule weinend
hinter einem Auto kauernd. Wie ein verängstigtes Tier hockte er da... Er riß
aus, sobald ein Problem auftauchte, gleichgültig, ob in der Schule oder zu
Hause. Einmal radelte er ganz allein zurück zu unserem alten Haus. Es ist ein
ganz schönes Stück bis dorthin, aber er schaffte es.
    Auch er hatte Probleme in der Schule.
Es lief einfach nicht mehr. Dreimal wechselte er das Gymnasium. Dadurch, daß
wir beide die gleichen Schwierigkeiten hatten, kamen wir uns näher. Wir konnten
endlich miteinander reden. Er vertraute mir an, wie sehr er unter Papas
Gemeinheiten gelitten hatte. »Warum hat er immer nur dich mitgenommen und uns
nie? Warum hat er Sandy und mich nicht gern gehabt? Warum hat er mich so
verächtlich behandelt? ›Schwächling‹, ›Angsthase‹ hat er immer zu mir
gesagt...«
    Ich wußte nicht, was ich darauf antworten
sollte. Laury fragte mich auch, was denn nun wirklich passiert sei zwischen
Papa und mir. Aber wie sollte ich ihm erklären, was das war: ein Inzest? Ich
wußte auch darauf keine Antwort. Stumm zuckte ich mit den Schultern. Daraufhin
sprach er über seine Angst und warum er oft am ganzen Körper zitterte und sich
so elend fühlte.
    »Papa konnte Sandy und mich nicht
leiden, er hat nur dich lieb gehabt. Zum Glück hatten wir Mama. Aber seit Papa
nicht mehr bei uns ist, kümmert sich Mama nur noch um dich. Für uns hat sie
praktisch gar keine Zeit mehr. Manchmal glaube ich, wir zählen gar nicht mehr
für sie.«
    Als ich das hörte, mußte ich weinen.
Ich nahm meinen Bruder in die Arme, drückte ihn fest an mich, gab ihm einen Kuß
und sagte: »Ich will euch Mama nicht wegnehmen. Sie ist unsere Mutter, eure
ebensogut wie meine. Und jetzt, wo Papa nicht mehr da ist, müssen wir sie uns
eben teilen. Einverstanden?«
    Ich war dreizehn, mein Bruder ein Jahr
jünger. Aber ich redete mit ihm wie mit einem kleinen Kind. Ein Lächeln ging
über sein Gesicht. »Einverstanden«, meinte er. »Wir teilen uns Mama.«
    An dem Tag wurde mir klar, daß wir alle
— meine Mutter, meine Geschwister und ich — im gleichen Boot saßen. Wir hatten
alle Angst und wußten nicht mehr weiter. Nur äußerte sich diese Ratlosigkeit
bei jedem von uns anders. Und ich hatte geglaubt, ich sei das einzige Opfer,
die einzige, die unter den Verhältnissen zu leiden hätte! Ich hatte nur an mich
gedacht. In Wirklichkeit waren wir alle kaputt, am Ende. Und jeder mußte
Zusehen, wie er damit fertig wurde.
    Auch Sandy, meine Schwester, zeigte
Verhaltensstörungen. In der Schule kam sie nicht mehr mit. Sie mußte zum
Logopäden, weil sie die Buchstaben nicht mehr auseinanderhalten konnte, sie
verwechselte alles. Das war ganz plötzlich gekommen, von einem Tag zum andern.
Während ich durch die ganze Geschichte reifer, härter geworden war, so als wäre
ich schlagartig gealtert, trat bei Sandy genau das Gegenteil ein: Sie
entwickelte sich zurück und verlernte alles. Sie war noch empfindsamer als früher.
Sie wurde sehr scheu und begegnete jedem Erwachsenen mit Mißtrauen. Sogar
meiner Mutter gegenüber verhielt sie sich ablehnend. Diese innere Abwehr hat
sie bis heute nicht aufgegeben. Es ist sehr schwer, Zugang zu ihr zu finden.
Sie hat das alles noch nicht verarbeitet und daher auch noch keinen
Schlußstrich darunter ziehen können.
    Ich glaube, insgeheim gab sie mir die
Schuld daran, daß alles so gekommen war. Jedesmal, wenn ich versuchte, mit ihr
über unseren Vater zu reden, lief sie weinend aus dem Zimmer. Sie nahm es mir
wahrscheinlich übel, daß ich meinen Vater »verraten« hatte und sie ihn dadurch
verlor. Obwohl er sich nie groß um sie gekümmert hatte, muß der Verlust
schrecklich für sie gewesen sein. Wir haben bis heute nicht darüber gesprochen.
Es ist noch zu früh.
     
    Ein Jahr lang war ich ständig auf
Achse, tobte mich aus, führte mich wie eine Wahnsinnige auf. Dann hatte ich
meinen Vater weitgehend aus meinem Kopf verdrängt.
    Papa wohnte ganz in der Nähe, im nur
wenige Kilometer entfernten Nachbarort bei Großmutter Mireille. Im gleichen
Ort, in dem Laury zur Schule ging (Mama hatte ihn nicht aus der

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