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Ich war seine kleine Prinzessin

Ich war seine kleine Prinzessin

Titel: Ich war seine kleine Prinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly
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Polizeibeamten
vorgeführt. Bei einem Schwurgerichtsverfahren wird das immer so gehandhabt,
auch wenn der Angeklagte nicht inhaftiert war. Erst am Tag vor der Verhandlung
wird er in Haft genommen. Der Anblick berührte mich seltsam. Was für eine
Schande für unsere Familie! Ein Raunen ging durch den Saal. Die Leute
tuschelten, ihre Blicke wanderten zwischen meinem Vater und mir hin und her, so
als versuchten sie abzuwägen, wer von uns beiden der Schuldige war: Er — wo er
doch so sympathisch wirkte — oder ich?
    Ich fragte mich, wie es so weit kommen
konnte. Wie war es möglich, daß wir uns in eine solche Situation manövriert
hatten? Das war wirklich traurig. Ich glaube, in diesem Augenblick tat mir mein
Vater sogar leid...
    Gleich nachdem die Verhandlung eröffnet
worden war, wurde ich aus dem Saal geschickt. Man führte mich in ein kleines,
ziemlich trostloses Büro, in dem ein paar Holzmöbel standen. Dort wartete, was
ich nicht gewußt hatte, meine Musiklehrerin auf mich. Mit dem gleichen Lächeln,
der gleichen Freundlichkeit wie früher. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Jetzt
hieß es für mich nicht mehr: allein gegen alle. Meine Lehrerin hatte mich nicht
im Stich gelassen. Daß sie bis zuletzt zu mir hielt, fand ich ganz schön mutig.
Danke für den Beistand! Danke fürs Kommen!
    Wir verbrachten fast den ganzen
Nachmittag in dem kleinen Raum, ohne zu wissen, was in der Verhandlung vor sich
ging. Wir unterhielten uns lange. Meine Lehrerin wollte wissen, wie es mir in
den drei Jahren ergangen sei. Ich war jetzt fünfzehn, ich hatte mich verändert,
ich war nicht mehr das kleine Mädchen von damals. Ich erzählte ihr von meinem
neuen Leben, von meinen Freunden, von unserem Umzug, verschwieg aber auch
nicht, daß ich große Probleme hatte. Zum Beispiel in der Schule, wo meine
Leistungen immer schlechter wurden. Und ich hatte auch nicht wieder angefangen
zu singen. Ich hatte überhaupt keine Lust mehr dazu.
    Unterdessen ging Mama im Gerichtssaal
drüben durch die Hölle. Später berichtete sie, was sich während meiner
Abwesenheit zugetragen hatte: »Dein Vater hat nicht einmal den Mut gehabt,
seine Aussage zu wiederholen. Statt dessen hat der Richter sie vorgelesen.
Darin warf er mir vor, eine schlechte Ehefrau zu sein, 300 000 Francs für
Kleidung ausgegeben zu haben, ihn mit einem anderen Mann zu betrügen. Als der
Richter ihn zum Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs befragte, antwortete er, er
habe nie einen Orgasmus gehabt, wenn er mit dir zusammen war, und er habe nur
versucht, bei dir zu bekommen, was ich ihm verweigert hätte... Mich hat der
Ekel gepackt, ich hätte ihn umbringen können. Und er saß auf der Anklagebank
und lächelte... Dann wurden die Gutachter angehört. Der seelische Schaden, den
du erlitten hättest, sei nicht so schlimm, daß du dich nicht wieder davon
erholen würdest, hat ein Psychiater behauptet. Dein Versagen in der Schule,
deine Selbstmordversuche, dieses eine Mal, als du deine Hose angezündet hast,
deine Depressionen, das alles hat er nicht berücksichtigt... Andere Gutachter
haben die Ansicht vertreten, dein Vater sei sich sehr wohl bewußt gewesen, was
er tat, und könne daher nicht auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren, um einer
Haftstrafe zu entgegen. Dann hat der Richter die Zeugenaussagen zugunsten
deines Vaters vorgelesen. Von seinem Mut war da die Rede, seiner Ehrlichkeit,
seinem Fleiß... Ein fast vollkommener Mann...«
    Ich bekam von alldem nichts mit, ich
saß abgeschirmt in dem kleinen Büro. Gegen Abend gesellten sich
Gendarmeriebeamte zu uns. Ich erkannte sie sofort wieder: Sie hatten mich an
dem Tag, an dem mein Vater festgenommen worden war, in Orange vernommen. Das
war am 22. Mai 1990 gewesen, das Datum würde ich nie vergessen.
    »Wie die Zeit vergeht!« staunten sie.
»Uns kommt es so vor, als wäre es gestern erst gewesen!« Ja, mir auch. Für mich
wird es immer so sein, »als wäre es gestern erst gewesen«. Wir unterhielten
uns. Auch sie wollten wissen, wie es mir denn so ginge, und stellten eine Menge
Fragen. Sie waren sehr freundlich und wünschten mir alles Gute.
    Schließlich wurde meine Musiklehrerin
in den Zeugenstand gerufen. Sie nahm mich zum Abschied in die Arme und wünschte
mir viel Glück. Ich glaube, es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte angefangen
zu weinen. Eilig verließ sie das Büro. Das alles war bestimmt nicht leicht für
sie. Ich habe ihr eine Menge zu verdanken. Was wäre wohl aus mir geworden, wenn
sie nicht gewesen wäre? Es

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