Ich war seine kleine Prinzessin
nicht wehren können. Ich habe meine Entscheidung nicht bereut. Ich
habe nur bereut, daß ich nicht den Mut hatte, die ganze Wahrheit zu sagen, in
allen Einzelheiten zu schildern, was mein Vater mit mir gemacht hatte. Über
einige sehr intime Details konnte ich einfach nicht reden.
Der Tag begann mit einem Paukenschlag.
»Kindesmißbrauch und Totschlag vor dem Schwurgericht« lautete die sechsspaltige
Überschrift in den Lokalzeitungen. Die Zeile hat sich mir unauslöschlich ins
Gedächtnis eingebrannt. Zwei Fälle wurden an jenem Tag verhandelt: meiner und
ein Totschlag, begangen von einem Obdachlosen an einem Mann zwei Jahre zuvor in
Avignon. Es handele sich um die »kleine Wintersitzung des Schwurgerichts«,
schrieben die Zeitungen. Für mich war das allerdings keine Kleinigkeit, für mich
ging es ums Ganze. Entweder ich bekam recht, oder ich war endgültig am Boden.
Vor Gericht zu erscheinen und gegen den eigenen Vater auszusagen ist für eine
Fünfzehnjährige gewiß keine alltägliche Erfahrung.
Drei Jahre lag das alles nun schon
zurück. Drei Jahre, in denen wir — meine Mutter, meine Geschwister und ich — uns
schlecht und recht durchs Leben geschlagen hatten. Drei Jahre voller Höhen und
Tiefen. Immer die gleichen Gedanken quälten uns. Ich grübelte dauernd darüber
nach, warum ich mich nicht getraut hatte, meinem Vater eine Abfuhr zu erteilen.
Und meine Mutter klagte immer wieder: »Hätte ich doch bloß nicht diesen Unfall
gehabt! Wäre ich doch bloß nicht in dieses Sanatorium gegangen! Hätte ich doch
bloß keine Tabletten genommen, dann wäre ich klar im Kopf gewesen und hätte
etwas gemerkt!« Aber Selbstvorwürfe brachten uns nicht weiter. Geschehen war
geschehen. Jetzt hieß es kämpfen.
Wenn man eine Geschichte wie meine im
Fernsehen sieht, denkt man: So was gibt‘s doch gar nicht. Jedenfalls nicht bei
uns. Irrtum! Unsere Familie, eine ganz normale französische
Durchschnittsfamilie mit einem lieben Papa, ist der beste Beweis dafür.
Damals berichteten alle Zeitungen über
unsere schändliche Geschichte: »Vor dem Schwurgericht in Carpentras — der
Beginn der Verhandlung wurde auf 14 Uhr festgesetzt — wird heute als erstes ein
Fall von Inzest verhandelt: Ein Vater wird angeklagt, seine minderjährige
Tochter sexuell mißbraucht zu haben. Leider ist diese schmutzige Affäre kein
Einzelfall.«
Meine Mutter und ich waren, damit wir
uns nicht abzuhetzen brauchten, bereits am Vormittag nach Carpentras gefahren.
Als wir durch die Stadt schlenderten, hätte ich den Leuten auf der Straße, die
uns zwar nicht kannten, aber in der Zeitung über uns gelesen hatten, am
liebsten zugerufen: »Hier, seht her, ich bin die schmutzige Affäre! Leider«,
hätte ich entschuldigend hinzufügen können, »nur eine von vielen...«
Die Cafébesucher konnten in der
Lokalzeitung lesen: »Am 22. Mai 1990 vertraute die dreizehnjährige Nelly ihrer
Musiklehrerin an, daß sie tags zuvor von ihrem Vater, einem
dreiunddreißigjährigen Mann, zu sexuellen Handlungen genötigt worden war. Die
Lehrerin verständigte sofort die Polizei. Bei der Befragung durch die Beamten
erklärte das Mädchen, es sei bereits früher zu ähnlichen Vorfällen gekommen.
Aus Furcht vor Prügel, aber auch aus Angst, die Liebe des Vaters zu verlieren,
hatte Nelly sich nicht gegen die Zudringlichkeiten gewehrt. Nachdem die Mutter
in ein Sanatorium eingeliefert worden war, hatte Nelly, die Älteste, den
Haushalt versorgt. [...] Der Vater beließ es nicht bei Zärtlichkeiten: Er zwang
die Tochter zum Geschlechtsverkehr. Nach viertägiger Untersuchungshaft wurde
der Beschuldigte auf freien Fuß gesetzt und unter richterliche Aufsicht
gestellt. Er erscheint als freier Mann vor Gericht.«
So hatte ein Journalist, den ich nicht
kannte, meine Geschichte für die Allgemeinheit zusammengefaßt. Schwarz auf weiß
stand sie da. Mit meinem Vornamen: Nelly. Den meines Vaters hatte er nicht
erwähnt, so als wollte er ihn, den Erwachsenen, schützen. Meine
Klassenkameraden haben den Artikel gelesen, ihre Eltern auch und alle Leute,
denen ich in diesem ruhigen etwa dreißig Kilometer von meinem Wohnort
entfernten Städtchen an diesem Morgen auf dem Weg zum Gerichtsgebäude begegnete.
Das war nun nicht mehr zu ändern. Einen Rückzieher würde ich jedenfalls nicht
machen.
Wir hatten um eine öffentliche
Verhandlung gebeten. Für meine Zeugenaussage beantragten wir allerdings den
Ausschluß der Öffentlichkeit, weil ich nicht vor aller Welt über
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