Ich war seine kleine Prinzessin
Haut zu retten. Und ich hatte von nichts gewußt.
Ich hatte keine Ahnung gehabt, daß er erst auf der Polizei und später im Dorf
herumerzählt hatte, ich sei an allem schuld, ich hätte ihn praktisch verführt.
Jetzt war mir klar, woher all die Gerüchte kamen, weshalb die Leute mich für
die Schuldige hielten. Mir hatte ja nie jemand etwas gesagt...
Mein Vater hatte einen ausgezeichneten
Anwalt, Michel Roubaud. Auch er war noch jung und verstand sein Handwerk. Die
Presse hatte über ihn geschrieben, er habe keine leichte Aufgabe, aber er hat
meinen Vater hervorragend verteidigt. Ich war dabei, ich habe sein Plädoyer
gehört. Er verwies darin auf einen Fall, der sich in England zugetragen und
seinerzeit für großes Aufsehen gesorgt hatte. Die Liebesaffäre zwischen Bruder
und Schwester endete damit, daß beide in den Tod gingen. Er sprach auch über
Gainsbourgs Chanson »Lemon inceste«. Was mich an seinen Ausführungen am meisten
beeindruckte, war jedoch, was er über den animalischen Instinkt und über den
Ödipuskomplex sagte, »was aber keine Entschuldigung, sondern lediglich eine
Erklärung sein soll«.
Mein Vater müsse sich in ärztliche
Behandlung begeben, meinte er und fügte hinzu: »Der Angeklagte hat eine Tat
begangen, die nicht wiedergutzumachen ist, aber er beging sie aus Liebe.« Ein
Anwalt hat die Pflicht, seinen Mandanten zu verteidigen. Ich rechnete es ihm
hoch an, daß er das nicht auf meine Kosten tat. Er suchte die Schuld nicht bei
mir, im Gegenteil, er nahm mich in Schutz. Ich sei das Opfer, erläuterte er.
Und damit hatte er völlig recht.
Mein Anwalt hielt ebenfalls ein
glänzendes Plädoyer. Er legte dar, welche seelischen und moralischen
Auswirkungen der Inzest auf mich gehabt hatte. Er schilderte die psychischen
Belastungen, denen ich ausgesetzt war, sprach von den Folgen und meiner tiefen
Verstörtheit: »Während ihr Vater nach nur vier Tagen Haft wieder auf freien Fuß
gesetzt wurde, mußte Nelly vier Monate im Heim verbringen. Sie verstand diese
Maßnahme nicht und empfand sie zwangsläufig als Strafe.«
Er erzählte auch von meinen Versuchen,
mir das Leben zu nehmen, indem ich entweder Tabletten geschluckt oder meine
Kleider mit Benzin übergossen und angezündet hätte. Überdies stehe doch wohl
fest, sagte er, daß mein Vater Gewalt gegen mich angewendet habe: »Keine
körperliche, aber seelische Gewalt. Nelly stand unter massivem psychischen
Druck. Sie glaubte, wenn sie sich ihrem Vater verweigerte, würde er sie
verstoßen, und dann wäre sie ganz allein.«
Der Staatsanwalt forderte zehn Jahre
Gefängnis. Ich dachte, ich hätte mich verhört. Ungläubig sah ich ihn an. Zehn
Jahre? dachte ich. Das ist eine lange Zeit. Ich fand die Strafe zu hart. Beinah
hätte ich gerufen: »Nein, nicht zehn Jahre! Das ist zuviel!«
Ich weiß nicht, warum ich im ersten
Moment so entsetzt reagierte. Dann begann ich nachzudenken, und ich sagte mir:
Ich werde nie vergessen können, was passiert ist, noch in zehn oder selbst in
zwanzig Jahren wird mir der Alptraum im Kopf herumspuken. Und Mama auch. Und
meinen Geschwistern auch. So betrachtet, sind die zehn Jahre Haft nur gerecht.
Er hat sie verdient. Das muß ich mir immer wieder sagen: Er hat sie verdient.
Nur jetzt nicht weich werden!
Die Geschworenen zogen sich zur
Beratung zurück. Zehn Jahre Haft. Die Entscheidung lag bei fünf Männern und
vier Frauen...
Das Warten war furchtbar. Ich konnte
keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich sah Mama von der Seite an. Auch ihr war
nicht nach Reden zumute. Was mochte ihr in diesen dramatischen Minuten durch
den Kopf gehen? Erinnerte sie sich an den Tag zurück, an dem sie Papa
kennengelernt hatte, an ihr junges Glück? Oder an den Tag, an dem eine Welt für
sie zusammenbrach, weil sie erfahren mußte, daß er mich vergewaltigt hatte?
Machte sie sich Gedanken über die Zukunft? Wovon sollten wir leben, wenn Papa
im Gefängnis war und uns keinen Unterhalt zahlen konnte? Auch Mama hatte großen
Mut bewiesen, als sie sich entschloß, ihren Mann zu verklagen.
Endlich hatten die Geschworenen ihre
Beratung beendet. Als sie den Saal betraten, erhoben sich alle von ihren
Plätzen. Es war totenstill. Papa wirkte zuversichtlich. Gelassen wartete er auf
die Urteilsverkündung. Großmutter Mireille dagegen rutschte nervös auf ihrer
Bank hin und her.
Mir schlug das Herz bis zum Hals. Ich
hatte Angst, ob davor, daß die Geschworenen dem Antrag des Staatsanwalts
gefolgt waren oder daß sie meinen Vater
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