Ich war seine kleine Prinzessin
die
Vergewaltigung sprechen wollte. Es würde schon schwierig genug sein, in
Anwesenheit meines Vaters, vor dem Richter, den Anwälten und anderen
Erwachsenen darüber zu reden. Ich weiß nicht, ob meine Mutter und ich es allein
geschafft hätten, ob wir aus eigener Kraft wieder auf die Beine gekommen und
stark genug gewesen wären, die Sache bis zum Schluß durchzuziehen. Zum Glück
hatten wir Philippe. Er hat uns den Rücken gestärkt, hat uns Mut und
Selbstvertrauen gegeben.
An diesem Morgen auf dem Weg zum Gericht
kam mir plötzlich eine Erinnerung. Irgendwann, als die Familie noch glücklich
beisammen war, hatte mein Vater einmal zu mir gesagt »Weißt du, was wir machen
werden? Wir werden im Kanu die Ardeche hinunterfahren und abends irgendwo unser
Zelt aufschlagen.« Warum war mir das gerade jetzt eingefallen? Was für ein
wunderbares Leben hätten wir führen können, wenn Papa mich nicht vergewaltigt
hätte, dachte ich. Wir hätten soviel zusammen unternehmen können. Statt dessen
trafen wir uns jetzt vor Gericht wieder. Der Gedanke tat weh.
Wir stiegen eine breite Treppe hinauf.
Das alte, düstere Gebäude mit der schweren Tür wirkte ein wenig unheimlich und
respekteinflößend zugleich. Drinnen gingen wir noch ein paar Treppen hinauf,
bis in den dritten Stock, glaube ich. Plötzlich konnte ich nicht mehr weiter.
Ich hatte auf einmal ganz weiche Knie, das Herz schlug mir bis zum Hals, meine
Handflächen waren feucht. Mir wurde schwarz vor Augen. Das nächste, was ich
sah, waren meine Großeltern. Wie aus dem Boden gewachsen standen sie vor mir.
Ich drehte mich um und lief weinend
davon. Da hatte ich so lange auf diesen Tag gewartet, hatte der Verhandlung
entgegengefiebert, weil ich mir eine vollständige Rehabilitierung erhoffte, und
jetzt bekam ich weiche Knie und wollte kneifen. Meine Mutter nahm mich in die
Arme und sprach mir Mut zu: »Komm, du schaffst das schon!«
Gemeinsam gingen wir an meinen
Großeltern und den Leuten aus dem Dorf vorbei. Sie starrten mich an, als ob ich
eine Kriminelle wäre, als ob man an diesem 12. Januar 1993 über mich und nicht
über meinen Vater Gericht hielte.
Ich schaute zu Boden. Ich ertrug diese
Blicke nicht, die zu sagen schienen: »Schämst du dich nicht, du kleine Hexe!« O
doch, und wie ich mich schämte. Nicht nur für mich, sondern auch für meinen
Vater, für uns alle... Ich hätte mir gewünscht, ich könnte die Zeit
zurückdrehen. Ich hätte mir gewünscht, ich wäre wieder das unschuldige kleine
Mädchen, das alle liebten. Das war vorbei. Jetzt sagten sie lauter Unwahrheiten
über mich. Sogar in der Zeitung konnte man es lesen: »Die Großmutter
väterlicherseits soll mehrfach angedeutet haben, daß [Nelly] ihren Vater
provoziert habe und deshalb sie die wahre Schuldige sei.« Es war ganz schön
hart, solche Dinge über sich zu lesen.
Wir betraten den Gerichtssaal. Ich war
tief beeindruckt. Die Atmosphäre hatte etwas Feierliches und zugleich
Beklemmendes. Beinah hätte ich gerufen: »Halt! Stop! Wir müssen das Ganze
abblasen! Ich kann nicht mehr!...«
Meine Großeltern nahmen auf der Bank
uns gegenüber Platz. Eine Freundin meiner Großmutter, die ich kannte, war
mitgekommen sowie ein Freund meines Vaters, ein Bauer, bei dem er immer
Geflügel und Hammelfleisch und Biogemüse gekauft hatte. Ich sah auch M. D.,
ebenfalls einer von Papas Bekannten, und eine Familie, die ich von klein auf
kannte und die bei meiner Erstkommunion dabei gewesen war. Ausschließlich
Freunde meines Vaters. Alle waren gekommen, um ihn moralisch zu unterstützen
und für ihn auszusagen. Eine verschworene Gemeinschaft gegen uns beide, meine
Mutter und mich.
Papas Verwandte und Bekannte musterten
mich auf eine Art und Weise, die mir gar nicht behagte. Ich weiß auch nicht,
warum. In ihren abschätzenden Blicken glaubte ich zu lesen: »Das alles ist nur
deine Schuld! Dir haben wir diesen ganzen Zirkus zu verdanken!« Alles an ihnen,
ihre Haltung, ihre Blicke, drückte Feindseligkeit aus.
Mama und ich hätten uns am liebsten in
ein Mauseloch verkrochen. Verzweifelt hielten wir nach Marc Geiger, meinem
Anwalt, Ausschau. Während dieses letzten Jahres war er immer für mich
dagewesen, wenn ich ihn gebraucht hatte. Da er selbst noch jung war, konnte er
mich gut verstehen. Er war stets freundlich und sehr einfühlsam. Wir blickten
uns also suchend nach ihm um, konnten ihn aber in dem Gedränge nirgends
entdecken. Ich zupfte meine Mutter am Ärmel und zog sie ein Stück weg in
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