Ich war seine kleine Prinzessin
träumen gewagt hätte.
In meiner Heimat hatte mein Fall viel
Staub aufgewirbelt, aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß sich darüber
hinaus jemand damit befaßte. Eines Tages jedoch rief uns Odile Ducret, die
Anwältin meiner Mutter, an und sagte: »Einige Journalisten aus Paris würden
gern eine Fernsehsendung zum Thema sexueller Mißbrauch von Kindern mit Ihnen
machen... Sie sind durch jemanden aus der Gegend hier auf Ihren Fall aufmerksam
geworden, haben sich über den Prozeß informiert und auch von den Gerüchten
gehört, die in Umlauf sind. Das hat sie so erschüttert, daß sie sich gern
einmal mit Ihnen unterhalten würden.«
Mama fand das Interesse der
Journalisten ganz normal. »Ich kann sie verstehen. Es gehört viel Mut dazu, an
die Öffentlichkeit zu gehen und den eigenen Vater zu verklagen. Außerdem ist
sexueller Mißbrauch von Kindern ein Thema, über das man sprechen muß.«
Ich hingegen staunte. Für mich war es
keineswegs selbstverständlich, daß sich jemand, der mich überhaupt nicht
kannte, der nicht einmal aus der Gegend hier stammte, mit meiner Geschichte
beschäftigte und erschüttert war, während ich hier als kleine Schlampe galt.
Dieses Interesse war mir ein großer Trost.
Ich sprach mit einer unserer
Aufsichtspersonen in der Schule darüber. Der junge Mann arbeitete am Theater
und im Filmclub.
Er liebte den Umgang mit uns Schülern,
und wir diskutierten oft miteinander. Ich hatte Vertrauen zu ihm. Er half mir.
Die Fernsehsendung hieß »Mea culpa«.
»Was für eine Art Sendung ist das
eigentlich?« fragte ich ihn. »Eine ganz ausgezeichnete. Aber es könnte trotzdem
verletzend für dich werden. Überleg es dir gut, bevor du zusagst.«
In den Pausen beleuchteten wir das
Problem von allen Seiten. »Wenn du die Sendung machen willst, solltest du mit
den Fernsehleuten vereinbaren, daß dein Gesicht nicht gezeigt wird«, riet er
mir. »Das wäre meiner Meinung nach das beste.« »Das finde ich nicht«,
antwortete ich. »Das ist doch blöd, wenn man nicht sieht, wer da spricht. Dann
wirkt das Ganze unglaubwürdig. Und außerdem, was nützt es, wenn die Leute mich
nicht sehen können? Dann wissen sie ja nicht, daß ich es bin, und das Gerede
geht immer weiter.«
Wir überlegten hin und her und erwogen
das Für und Wider. Zum Schluß meinte er: »Letztlich mußt du selbst wissen, ob
du stark genug bist, um die Konsequenzen zu tragen.« »An den Konsequenzen trage
ich jetzt schon drei Jahre«, erwiderte ich.
Ich sprach auch mit der
Erziehungsberaterin unserer Schule darüber. Sie sollte uns bei der Lösung
unserer Probleme behilflich sein und uns Orientierungshilfen geben. Sie kannte
mich sehr gut und hatte meine Geschichte mit großer Aufmerksamkeit verfolgt.
Wir unterhielten uns ausführlich über diese Sendung, um herauszufinden, ob ich
seelisch überhaupt dazu in der Lage wäre und ob sie mir in irgendeiner Weise
von Nutzen sein könnte.
Schließlich kam meine Beraterin zu dem
Schluß, ich könnte tatsächlich von der Sendung profitieren, weil sie mir
Gelegenheit geben würde, mich zu äußern und endlich den wahren Sachverhalt
darzustellen. Damit würde ich nicht nur mir, sondern auch anderen Kindern
helfen. Sie riet mir aber auch zu größter Vorsicht. Ich müsse mich gut
vorbereiten, müsse Vertrauen zu den Journalisten haben können und bräuchte
jemanden, der mich moralisch unterstützte. Falls ich mich entschließen sollte,
das Angebot anzunehmen, könne ich auf jeden Fall mit ihr rechnen.
Meine Musiklehrerin von damals, die mit
ihrer Anzeige den Stein ins Rollen gebracht hatte, fragte ich ebenfalls um Rat.
Sie ermutigte mich und erlaubte mir auch, über ihre Rolle in der ganzen
Angelegenheit zu sprechen.
Ich möchte an der Stelle erwähnen, daß
meine Lehrer, das Aufsichtspersonal und alle anderen Pädagogen an meiner Schule
mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden und mich in jeder Beziehung unterstützt
haben, wofür ich ihnen danken möchte.
Ich beriet mich danach mit einer
Freundin und auch noch mit anderen Menschen. Und ich diskutierte ein weiteres
Mal ausführlich mit meiner Mutter. Sie war nicht unbedingt dagegen, aber sie
fürchtete, es könnte noch mehr Porzellan zerschlagen werden, und wollte mich
vor einer weiteren schweren Enttäuschung bewahren.
Die Leute hätten mir schon genug
angetan, meinte sie. Ich erklärte ihr meinen Standpunkt. Mama konnte mich
verstehen.
»Die Entscheidung liegt bei dir«, sagte
sie. »Wenn du zusagst, kannst du auf mich zählen,
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