Ich war seine kleine Prinzessin
hatte das Gefühl, alles war umsonst gewesen. Jetzt konnte ich wieder
von vorn anfangen. Sie hatten mir meinen Prozeß gestohlen.
Ich muß unbedingt etwas dagegen
unternehmen, sagte ich mir, so kann es nicht weitergehen. Ich darf diese Lügen
nicht unwidersprochen hinnehmen, sonst hat das nie ein Ende. Die Version meines
Vaters kennen die Leute jetzt — höchste Zeit, daß sie endlich auch meine
kennenlernen.
Diese Gedanken und Empfindungen
bewegten mich damals. Ich reagierte überempfindlich, weil ich zu tief verletzt
war. Ich hätte ja auch bloß lesen können: »Fünf Jahre Gefängnis für den Vater,
der seine Tochter sexuell mißbraucht hat«. Aber mein Blick wanderte
unweigerlich immer wieder dorthin, wo mein Vater mit den Worten zitiert wurde:
»›Ich habe nur dem Drängen meiner Tochter nachgegeben...‹«. Tränen der Wut
liefen mir übers Gesicht. Sollte mich der Vorwurf mein Leben lang verfolgen?
Wahrscheinlich. Wahrscheinlich würde ich für die anderen immer die Schuldige
sein.
Plötzlich packte mich das unbändige
Verlangen, meinen Vater umzubringen. Ich hatte nur noch einen Wunsch: es ihm
heimzuzahlen, mich an ihm bitter zu rächen für all das, was er mir körperlich
und seelisch angetan hatte.
»Wenn er aus dem Gefängnis entlassen
wird, werde ich dasein«, sagte ich zu meiner Mutter. »Ich werde auf ihn warten
und ihm eine Kugel in den Kopf jagen.« Und bedauernd fügte ich hinzu: »Das
hätte ich schon viel früher tun sollen.« Mama nahm mich fest in die Arme. »Ich
verstehe ja, daß du ihn haßt, mein Kleines... Aber es gibt jetzt Wichtigeres zu
tun. Du mußt endlich wieder anfangen zu leben — zu leben und zu vergessen.«
»Mea culpa«
Selbst nach dem Prozeß haben uns viele
geraten, kein Wort mehr über die Angelegenheit zu verlieren, sie einfach
totzuschweigen. Man hätte meinen können, sie fühlten sich unangenehm berührt
davon. Für viele blieb ich auch nach dem Gerichtsurteil die Hauptschuldige. Den
Fall an die Öffentlichkeit gezerrt und meinen Vater verklagt zu haben, stellte
in ihren Augen ein noch schlimmeres Vergehen dar, als »nur«
Vergewaltigungsopfer zu sein.
Das ging bald so weit, daß meine Mutter
sich nicht mehr ins Dorf meiner Großeltern traute, wo Papa drei Jahre auf
seinen Prozeß gewartet hatte. Sie hatte Angst, ihr altes Auto könnte sie
ausgerechnet dort im Stich lassen. Etliche Zwischenfälle hatten uns gezeigt,
daß das Gerichtsverfahren keineswegs die Dinge wieder ins Lot gebracht und mich
rehabilitiert hatte. Und das galt nicht nur für das Heimatdorf meines Vaters.
Auf meiner Schule in Orange etwa fragte
mich einmal ein Junge, der so alt war wie ich, ob ich mit ihm ausgehen wolle.
Ich sagte nein. Da erzählte er überall herum, ich hätte abgetrieben. Ich ging
zum Direktor und sprach mit ihm darüber. Er war sehr freundlich und
verständnisvoll. Er bat die Eltern des Jungen zu sich und ließ auch meine
Mutter kommen. Der Vater des Schülers beschimpfte Mama auf üble Art und Weise.
»Ihr Mann hat ganz recht gehabt, wenn
er Ihre Tochter vergewaltigt hat!« schleuderte er ihr ins Gesicht. Ich brach in
Tränen aus und Mama auch. Wie konnte jemand so gehässig sein? Tiefer Abscheu
erfüllte uns.
Solche Vorfälle ereigneten sich immer
wieder. Viel zu oft. Das machte mich ganz krank. Ich mußte ständig an den Tod
denken. Ich wollte nicht nur meinen Vater umbringen, sondern auch mich. Damit
endlich Ruhe war. Ich verkraftete diese ganze Geschichte nicht. Sie zog sich
schon so lange hin, und es war noch immer kein Ende abzusehen. Sie würde mich
mein Leben lang begleiten. Sie ließ sich in einem Satz zusammenfassen und war
in mich eingeätzt wie eine Tätowierung, die jeder lesen konnte: Nelly hat ihren
Vater verführt.
Nach dem Prozeß hätte ich eigentlich
zufrieden sein müssen. Er hatte mir Gerechtigkeit verschafft. Mein Vater war
schuldig gesprochen worden. Das Gericht sah es als erwiesen an, daß er mich
vergewaltigt hatte, und bescheinigte mir »schwere psychische Störungen«. Doch
all das überzeugte die Leute nicht. Das Gerede ging weiter. Am Schluß der
Verhandlung hatte mein Vater gesagt: »Sie war diejenige, die mich provoziert
hat, aber ich will nicht, daß man sie deshalb für eine Schlampe hält.«
Meine Großmutter hielt weiterhin zu
Papa, und auch seine Freunde nahmen ihn immer noch in Schutz. Ich mußte einen
Weg finden, mir endlich Gehör zu verschaffen. Es sollte mir auf eine Art und
Weise gelingen, von der ich nicht einmal zu
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