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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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Ende des Bettes
geschlafen haben, fast auf dem Kopfkissen, als hätte ich mich in der Mauer
verkriechen wollen. Und das Erwachen war wieder ein Alptraum.
    Ein düsterer Morgen mit düsteren
Gedanken. Keine Kindheit mehr. Die Einsamkeit eines Hundes, den man im Wald
ausgesetzt hat. Mit dem Abstand der Jahre kann ich heute sagen, daß Nathalie an
jenem Tag gestorben ist. Zum damaligen Zeitpunkt war mir das nicht klar. Das war
nicht möglich. Ich sagte mir, er muß bestraft werden, er muß krepieren. Wie,
wußte ich nicht. Aber diese Waschmaschine wird unauslöschlich in meiner
Erinnerung verhaftet sein. Ich kann heute keine mehr sehen, sogar in der blöden
Werbung, wo man Ihnen erzählt, daß dies oder jenes weißer wäscht, wo einem wer
weiß etwas garantiert wird. Ich kann es nicht mehr. Zu Hause ist das Badezimmer
ein verfluchter Ort geworden. Gott weiß, wie oft ich diesen verfluchten Ort
trotzdem aufgesucht habe. Ich verbrachte meine Zeit damit, mich zu waschen. Als
könnten mir Wasser und Seife helfen. Es war wie der liebe Gott: eine Täuschung.
Von nun an mußte ich mit der Lüge leben. Ich mußte alle anlügen. Mußte mich
innerlich schämen und äußerlich lügen. Der Krieg war erklärt worden, zwischen
mir und den anderen.
    Ich stehe auf, ich gehe langsam zur
Küche, wo ich die vertrauten Geräusche des Frühstücks höre. Er ist zur Arbeit
gegangen. Meine Mutter schaut mich sonderbar an.
    »Nathalie, wie hast du so etwas tun
können? Dieser Junge ist doch viel älter als du, du bist noch ein Kind... Er
ist fünfzehn... hat er dich gezwungen?«
    Ich verstehe sehr schnell, was er
erzählt hat. Sie müssen heute morgen davon gesprochen haben. Mama ist entsetzt,
sie versteht nicht, daß ihr Baby das machen konnte. Mit jemandem schlafen.
    »Wir haben nichts Böses getan, Mama.«
    »Du weißt nicht, wovon du sprichst. Du
bist noch keine dreizehn... ein Baby... Dein Vater und ich sind uns in diesem
Punkt einig. Du darfst ihn nicht mehr wiedersehen. Du bist verdorben. In deinem
Alter tut man das nicht.«
    Sie glaubt alles, was er ihr sagt. Das
ist normal. Und sie hat danach beschlossen, nicht mehr mit mir zu reden. Ich
bin ganz allein in der Küche mit meiner Teeschale. Mama geht hin und her,
schweigend. Ich hätte gerne, daß sie mir Fragen stellt. Daß sie versucht zu
verstehen. Aber für sie bin ich nicht mehr dieselbe. Ich habe etwas Schlimmes
getan: Ich habe mit einem Jungen geschlafen. Ich bin verdorben. Wenn ich sage:
»Es war dein Mann, der mit mir geschlafen hat«, wird sie mir nicht glauben,
weil sich das wie eine faustdicke Lüge anhört. Franck nicht mehr sehen, ein
Verbot unter Androhung harter Strafen. Es fällt mir nicht schwer zu gehorchen.
Ich könnte Franck nicht mehr in die Augen sehen. Er kann nicht verstanden
haben, was passiert ist. Warum mein Vater ihn hinausgeworfen hat. Und ich, was
kann ich ihm sagen? Nichts. Es ist wie bei Mama. Für sie wäre die Wahrheit eine
glatte Lüge. Vor allem schäme ich mich. Schäme mich vor Mama. Mama ist die Frau
meines Vaters. Mit ihr hat er gemacht, was er mir angetan hat. Also möchte ich
sie auch nicht mehr anschauen.
    Ich lungere im Hof vor dem Mietshaus
herum. Franck wohnt im Haus nebenan. Was werde ich den Freudinnen erzählen? Daß
ich mich nicht mehr mit ihm verstehe. Wir haben »Schluß gemacht«. Wenn ich mit
ihm spreche, und mein Vater kommt dazu, werde ich Schläge mit dem Ledergürtel
bekommen. Er hat gesagt, er wäre ein »Waschlappen«. Franck ist kein
Waschlappen. Er ist ein prima Kerl. Ich mag ihn gern.
    Meine Schwester schaut mich an, als sei
ich krank.
    »Kommst du nicht spielen?«
    »Ich habe Kopfweh.«
    »Gehst du nicht mit Franck Tennis
spielen?«
    »Ich hab’ dir gesagt, daß ich Kopfweh
habe, laß mich in Ruh’!«
    Heute abend wird es wieder losgehen.
Sie wird sich ruhig schlafen legen und Mama ebenfalls, um neun Uhr wie üblich.
Und ich?
    Wenn ich nein sage — der Gürtel. Wenn
ich schreie, wenn ich mich in Sicherheit bringe, wird er erzählen, ich sei
verdorben. Verdorben. Das hat er Mama gesagt.
    »Oh, la la! Was bist du für eine
Schlimme... Papa hat dich wegen Franck ausgeschimpft...«
    »Laß mich in Ruh’, hab’ ich gesagt!«
    Sie ist zehn. Sie versteht nichts. Das
ist normal, sie ist ein Baby. Ich bin auch ein Baby. Mama sagt es. Warum
begreift sie nicht? Warum glaubt sie ihm und nicht mir?
    Mir tut der Bauch weh. Nicht der Kopf.
Ich laufe nicht mehr wie früher. Wenn ich laufe, denke ich daran. Wo könnte ich
meinen Kopf

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