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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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habe meine Aufgaben gemacht,
Mama.« (Siehst du nicht, wie er darauf wartet, daß du schlafen gehst? Siehst du’s
nicht?)
    Nachts lügen.
    »Ja, ich mag das.« (Schuft, verdorbenes
Stück, Dreckschwein, ich scheiß auf das, was du mir eben angetan hast.)
    In der Schule lügen.
    »Ich habe meinen Aufsatz nicht gemacht,
ich hatte Kopfweh.« (Siehst du nicht, daß ich null Bock auf Voltaire habe?
Siehst du nicht, daß es mir schlecht geht?)
    Die Jungen meines Alters anlügen.
    »Laß mich in Ruhe, ich hab’ einen
Freund.« (Du widerst mich genauso an, du kleiner Mann.)
    Mama anlügen.
    »Ich bin nicht krank, ich bin in der
Pubertätskrise... Du sagst es doch selbst.« (Er ist krank, dein Mann... der
Vater deiner Kinder... Siehst du nicht, was er für ein Ungeheuer ist? Läßt du
zu, daß er mich begrabscht?)
    Lügen war mir zur zweiten Natur
geworden. Es war eine andere, meine Doppelgängerin, die etwas Beliebiges sagte,
wenn man sie nur in Ruhe ließ. Nach und nach nahm ich die anderen, die Familie,
die Lehrer nicht einmal mehr wahr, nur ab und zu die Freunde. Was ich von
meinem sechzehnten Lebensjahr im Gedächtnis behalten habe, ist nur, daß mir die
Wirklichkeit abhanden gekommen war. Sie war zu hart für mich, ich war zu sehr
allein. Ich wurde nicht mit ihr fertig.
    »Morgen beginnen also die Ferien zu
Allerheiligen? Da kannst du dich richtig ins Zeug legen und mir helfen...«
    »Ferien sind Ferien, nicht wahr, Mama?«
    »Wenn du keine Schule hast, bist du
auch in der Lage, deinem Vater zu helfen, dann kann er mir auch helfen...«
    Die Hölle. Sie glaubt es. Er braucht
mich in den Ferien jeden Abend, sie hat nichts dagegen einzuwenden.
    Den heutigen Abend werde ich in der
Hölle verbringen, denn es findet keine Schule statt. Das mit der Zigarette hat
nicht geklappt, ich werde es mit Schminke versuchen. Man muß mich unbedingt im
Eilverfahren zur Großmutter schicken, damit ich wieder ins richtige Lot komme.
Ich muß außer Rand und Band geraten und dabei meine Ruhe bewahren. Schminke
verabscheut er.
    Stille in der Wohnung, ich bin allein
in der Küche. Ich habe blaue, schwarze, rote und grüne Schminke gekauft. Ich
male mir die Augen blau an. So blau, so groß, daß man sie nachts sehen könnte.
Ein Clownsgesicht. Ich werde ihn in seinem Büro aufsuchen, ich stelle mich so,
daß das Licht voll auf meine Clownsvisage fällt und warte.
    »Leg ein bißchen weniger auf.«
    Es ist ihm wurscht oder was? Er tut so,
als bemerke er’s kaum. Leg ein bißchen weniger auf... Ist das alles, was ihm
einfällt?
    Warum dieses Zynikerlächeln, das mir
immer Lust macht, ihm die Fresse zu polieren... Was habe ich jetzt wieder für
eine Dummheit gemacht?
    »Auf dich wartet Arbeit. Danach habe
ich eine Überraschung für dich.«
    Überraschung. Er spricht mit mir wie
mit einem fünfjährigen Kind. Ich kenne seine Überraschungen. In Erwartung
dessen erledige ich die Arbeit. Rechnungen, Mehrwertsteuer aufschlüsseln,
Briefe an die Kunden, Akten einordnen. Die Stunden vergehen, er redet nicht mit
mir. Ich werde danach hierbleiben müssen, soviel ist sicher. Mit seiner
Überraschung. Er hüllt sich in Schweigen. Ich spüre, daß er mich belauert, daß
er auf den Moment wartet, wo er seine Arbeit beendet hat und ich auch.
    Er besitzt die Geduld einer Schlange.
Ich muß es mit einer anderen Taktik probieren, da meine Clownsvisage keine
Wirkung gezeigt hat. Ich werde es mit der Masche »ruhige und freundliche
Tochter« versuchen, die ihn nicht zurückweist, sondern schlafen gehen möchte.
    Er legt auf dem Schreibtisch vier
Joints nebeneinander und sorgt für gedämpftes Licht. Eine tödliche Atmosphäre.
    »Es ist kalt heute.«
    Seichtes Geschwätz. Ich muß ebenso
antworten.
    »Ja. Aber nicht sehr.«
    Bevor er nach Hause kam, hat er Shit
geraucht. Das sieht man an seinen Augen.
    »Heute abend muß ich dich um einen
kleinen Dienst bitten.«
    Mich um einen Dienst? Er, der Mann, der
Überlegere, will mich, die kleine Gans, um einen Dienst bitten? Vorsicht.
    »Ich habe eine Überraschung für dich.
Eine richtige. Heute abend wirst du gut drauf sein. Ganz einfach, wir tun
alles, was du willst. Ich werde nichts sagen, wir machen nur, was du gern hast.
Na? Was denkst du darüber? Bist du glücklich?«
    Es verschlägt mir den Atem. Ich weiß
nicht, was ich antworten soll. Ich mag nichts. Rein gar nichts von dem, was er
immer machen will. Ruhig, Nathalie, ruhig... antworte:
    »Papa... wollen wir uns heute abend
nicht schlafen legen, hm? Und

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