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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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kann nichts sauberwaschen. Und trotzdem suchte ich
einen Ausweg, sagte ich mir, daß es sicher irgendwo einen gab, so konnte ich
nicht weitermachen, das ganze Leben vor Angst schlotternd... Frei sein,
glücklich, war das zuviel verlangt vom Leben? Wann, wie werde ich diesem
Gefängnis ohne Gitter entkommen? Werde ich den Lichtstrahl am Ende des Tunnels
wiederfinden?
    Allmählich bin ich ruhiger geworden.
Das Zittern, die Gänsehaut, das Toben im Kopf ließen nach. In dieser Nacht ist
er nicht wiedergekommen. Letztendlich mußte mich seine Wut kaltlassen, wenn ich
ihm so entkommen konnte.
    Ich habe ein wenig geschlafen.
    Ich bin heute morgen spät aufgestanden.
Mama ist schon in ihren Laden gegangen, meine Schwester spielt in ihrem Zimmer
mit dem kleinen Bruder, und er sitzt in der Küche vor seinem Kaffee.
    »Ah! Da bist du ja endlich?
Mademoiselle schläft bis in die Puppen...«
    Antworte nicht, sage ich mir. Mach dir
eine heiße Schokolade, er wird verschwinden.
    »Ich muß wohl andere Saiten mit dir
aufziehen! Bis jetzt bin ich entgegenkommend gewesen, aber das wird sich
ändern. Ab heute habe ich das Sagen, verstanden? Und du wirst meinen Befehlen
gehorchen. Ich hab’ es satt, in diesem Haus für einen Dummkopf gehalten zu
werden. Da ich streng sein muß, werd’ ich’s sein... Kapiert? Das werdet ihr
schon sehen, in diesem Haus werde ich andere Saiten aufziehen...«
    Antworte nicht. Das gilt dir, nicht dem
Haus im allgemeinen. Du bist die leichte Beute, meine Liebe. Das heißt im
Klartext: Es kommt nicht in Frage, zu ihm zu sagen »leg dich schlafen«.
Jedenfalls sehe ich nicht, was sich damit ändern soll. Er will sich aufregen,
also tut er’s, Schluß — aus. Er entscheidet immer, was zu tun ist. Ja, ja,
verpiß dich, mach die Fliege, daß ich wenigstens in Ruhe meine heiße Schokolade
trinken kann. Auf alle Fälle fängt der Tag nicht gut an. Ich kann nur ins »Chez
C.« ein Bier trinken gehen. Ich sollte diesen günstigen Moment nutzen, er kommt
selten genug. Denn heute abend wird er sich rächen. Er hat es nicht geschluckt,
daß ich ihm sagte, er solle sich schlafen legen.
    »Nathalie, nimmst du mich zum Bummeln
mit?«
    »Laß mich ein bißchen in Ruhe...«
    »Oh! Schon gut, schon gut... Hast du
dich mit Papa gezankt?«
    »Genau. Er hat mich ausgeschimpft.«
    »Was hast du angestellt?«
    »Was soll ich schon angestellt haben?
Nichts. Wie gewöhnlich. Ich habe nichts getan.«
    Die kleine Schwester, die einen Papa
hat. Scheiße.
    Hab’ ich einen Papa?
    Ich mochte meine Schwester, ich mag sie
immer noch. Aber sie war privilegiert. Sie wurde in Ruhe gelassen. Ich mußte
alles ausbaden. Mit der Zeit wurde ich immer unausstehlicher zu meiner Mutter,
meiner Schwester, zu allen. Mein Leben war ein Alptraum, und ich ließ es die
anderen spüren; das war ekelhaft von mir, aber so war es eben. Ein bißchen
Rache auf meine Art. Eigentlich hätte mein Vater die Folgen tragen müssen,
nicht sie. Ich war ungerecht, weil das Leben mit mir ungerecht war.
    Am Abend kam er mit einem schlaffen,
aufgedunsenen Gesicht und roten Augen nach Hause. In den Lungen sicherlich
diese Scheißdroge, die er geraucht hatte. Ich würde eine gräßliche Viertelstunde
erleben, aber ich war daran gewöhnt, so sehr gewöhnt, daß meine Angst nicht
mehr so groß war wie in der ersten Zeit. Ich haßte und verachtete diesen Kerl,
er war ein Fremder für mich geworden. Der Folterknecht und sein Opfer waren
nicht mehr Vater und Tochter. Vom Vater blieb nur die Angst übrig, die er in
mir gesät hatte. Die Angst, den Inzest ans Licht zu bringen. Ich hasse sogar
das Wort Inzest. Es ist an und für sich schon schmutzig. Nur mit Mühe bleibe
ich ruhig, während ich dies niederschreibe. Aber ich werde durchhalten, da ich
beschlossen habe, ihm die Stirn zu bieten.
    Ich hätte gerne, daß man es den Kindern
in der Schule, im Gymnasium beibringt, daß man von Zeit zu Zeit einen einfachen
Satz auf eine schwarze Tafel schreibt, etwa: »Wenn jemand aus Eurer Familie,
Vater oder Bruder, Euren Körper oder Euer Geschlecht berühren möchte, sagt es.«
Man lehrt sie schließlich auch, beim Überqueren der Straße achtzugeben. Das
müßte schon in den unteren Klassen beginnen. Wenn man mir das beigebracht
hätte, vielleicht hätte ich früher geredet. Vielleicht...
    Sie müssen unbedingt noch etwas wissen.
Ich spreche von der Verstellung, derer ein Kerl wie er fähig ist. Zu Hause, bei
Tisch, in der Familie, vor meiner Mutter, vor den anderen, er war über

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