Ich war zwölf...
Leid zufügen, so wie er mir Leid zugefügt hatte. Ich preßte den Griff
immer stärker an mich, die Klinge nach unten, um ihn nicht zu verfehlen, und
mit einem kurzen Hieb schlug ich auf etwas ein. Auf dem Boden sah ich es rot
aufblitzen, ich war gerettet, ich hatte ihn getötet...
Und mit voller Wucht holte mich die
Wirklichkeit ein. Das Messer steckte wohl irgendwo, aber auf einem Holzbrett,
das zum Schneiden des Schweizer Käses diente. Meine Gedanken hatten mir einen
Streich gespielt. Es war danebengegangen.
Aber meine Lust, diesen Mann zu töten,
war entschieden größer als der Kummer, der Haß, das Mitleid, die Wut und selbst
die Freude. Es war etwas Eigenartiges. Ich glaubte tatsächlich, ich sei mit
diesem Messer in den Händen etwas sicherer, nur ein ganz klein wenig, und ich
müsse ihn töten, um wirklich in Sicherheit zu sein. Ich selbst mußte das
gerechte Urteil fällen, sonst war ich meinerseits verurteilt. Ich hatte die
Pflicht, ihn zu töten. Wenn ich es heute nicht geschafft hatte, war das nur ein
Aufschub. Meine Augen waren feucht. Von der Verzweiflung, der Qual, es nicht
geschafft zu haben. Also nahm ich das Messer wieder, wobei ich die Klinge
wieder nach oben zeigen ließ. Diese Klinge hatte meinen Vater nicht getötet,
aber sie blieb meine Freundin. Eine Tages würde sie mich von meiner Qual
erlösen. Eines Tages würde ich durch sie wieder leben.
Seit dem Tag, als er gewagt hatte, mich
auf diese blöde Waschmaschine zu setzen, wußte ich, er würde zugrunde gehen. So
viele Male hatte ich ihn angefleht, mich in Ruhe zu lassen, aufzuhören. Mir nicht
weh zu tun. Er antwortete nicht, er beachtete meine Worte nicht, vielleicht um
ein gutes Gewissen zu bewahren, der Dreckskerl. Also wünschte ich, daß er eines
Tages angekrochen käme und mich anflehte, aufzuhören, daß er sich zappelnd
wände wie ein Wurm. Ich wollte seinen Schmerz fühlen, wenn es mir gelänge,
diese Klinge auf seinen Bauch zu richten. Er sollte brüllen, weinen, betteln,
damit ich wirkliche Glücksgefühle empfand.
Und ich stand wie ein dumme Gans da,
hinter der Käsetheke, und wartete auf Kunden. Man mußte mich für verrückt
halten, wenn ich versuchte, jemanden oder etwas zu töten, das es nicht gab.
Also räumte ich die Messer und den Käse
in die Kühlkammer und ging mit leeren Händen weg. Um einen zu trinken. Allein.
In meinen Gedanken sah ich Messer, meinen Vater, Blut. Alles verschwamm, ich
verstand nichts mehr.
Ich kehrte zur Wirklichkeit zurück. Ich
wartete. Auf nichts Großartiges. Nur, daß einer käme und sagte: »Ich weiß, was
du hast, wir werden dich da herausholen.« Ohne daß ich etwas sage, ohne daß ich
erzählen muß, weil ich es nicht gekonnt hätte. Selbst wenn man mich hundertmal
gefragt hätte.
Aber die Leute verschanzten sich hinter
ihrem alltäglichem Kram. Feiglinge. Sie wollten nicht mit den Problemen anderer
behelligt werden. Sie kamen nicht.
Obwohl die Leute das Leiden nicht
gerade gern sehen. Es stört sie, Kinder wegen Elend, Hunger oder Schlägen
weinen zu sehen. Wenn sie fernsehen, entrüsten sie sich über all die
ausgesetzten, mißhandelten, verbrühten, geschlagenen, vergewaltigten, ermordeten
Kinder. Warum tun sie dann nichts? Warum? Ich würde dieses Warum gerne in ihre
Spatzenhirne hineinbrüllen, ich würde mir gern ihre Erklärungen anhören. Ist es
so schwer, an die Arme eines Fünfjährigen zu denken? An das Herz eines
Achtjährigen? An die Augen einer Zwölfjährigen? An all diese Kinder, die über
ganze Tage hinweg langsam verenden, weil Idioten wie Sie zu faul sind, etwas zu
unternehmen? An mich, die ich in dieser Bar ein Bier nach dem anderen
hinunterspülte wie eine Alkoholikerin, ohne an jemanden das Wort zu richten bis
zu dem Moment, wo das Bier all die Schweinereien dieses gottverdammten Vaters
ertränkte?
Ich hab’ ein loses Mundwerk, wie? Ich
beschimpfe Sie. Ich tue das, damit Sie begreifen. Die Schimpfworte und die
Beleidigungen treffen Sie mit voller Wucht. Um so besser, vielleicht hören Sie
dann endlich auf das Schweigen der anderen.
9
Montag morgen schleppe ich mich wieder
zur Penne. Flo schlägt mir auf die Schulter:
»Du schaust aber komisch aus der
Wäsche! Was hast du am Sonntag gemacht?«
»Nichts.«
Nichts. Er hat mich das ganze
Wochenende genervt. Ich habe wieder einmal machen müssen, was er wollte. Er hat
mich geschlagen, weil ich nichts empfunden habe. Er hat mir Drogen gegeben,
damit »ich begreife, daß ich ihm Unrecht tue, wenn ich ihn
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