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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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dann lege ich mich schlafen«, so macht
dies in aller Kürze sehr anschaulich deutlich, auf welche Weise ich in diesen
Momenten zur Sklavin geworden war. Kindheit kaputt, Jugend im Eimer, der Prozeß
der Nazifizierung hatte begonnen. Versuche ich heute, mich verständlich zu
machen, so drücke ich mich in sachkundigen Worten aus. Das Haus war abends ein
Konzentrationslager, ich war die einzige Internierte, der Stacheldraht der
Nacht umgab mich, ich wartete auf die Folter, ganz allein in dem schlafenden
Haus. Dann kam der Folterknecht nach Hause, und ich folgte ihm ohne
offenkundige Auflehnung. Er gab mir Drogen, schlug mich, vergewaltigte mich, er
spritzte seinen Samen ab, und ich ging schlafen. So ist der Inzest. Das ist der
Kerl, der vorgab, mein Vater zu sein. Jetzt, in diesem Augenblick sehe ich im
Fernsehen schamhafte und entsetzliche Berichte über geschlagene, mißhandelte
oder vergewaltigte Kinder vorüberflimmern. Da steht: »Ruhe — sie schreien.« Was
soll ich Ihnen sagen? Die Gesichter dieser Kinder sind zu schön, zu sauber, die
Augen zu ausdrucksstark in ihrer Verzweiflung.
    Im nachhinein sehe ich mich nicht so.
Ich sehe mich abgestumpft, mit ausdruckslosem Blick, vollkommen teilnahmslos,
schmutzig, ungekämmt, mit einem Biergeschmack im Mund und einer Zigarette
zwischen den Lippen. Anscheinend tat ich niemandem leid. Man sah nicht, daß ich
im stillen schrie. Und dennoch schrie ich ganz laut. Ich schrie laut, indem ich
mir die Augen schwarz anpinselte und Lippenstift auf den Mund klatschte, indem
ich zum Schlafen mehrere Kleidungsstücke übereinanderzog. Indem ich etwas
X-Beliebiges stahl und allen Leuten über alles Lügenschichten erzählte. Ich
schrie so laut, daß eines Abends meine Stimme nicht mehr durch die Stille
drang. Es gab nur noch diese Stille, ich selbst war Stille. Und ich wollte an
einem Samstagabend sterben, so wie man tanzen geht.
    Wir schnauzen uns an. Wegen irgendeinem
Quatsch.
    »Wenn das so ist, gehst du heute abend
nicht aus, ich bringe dich zu deiner Cousine.«
    »Ich hab’ meinen Freunden versprochen,
daß ich mit zum Tanzfest komme.«
    »Kein Tanzfest. Ich gehe unter die
Dusche, und dann fahren wir los. Da du unbedingt ausgehen willst, werd’ ich dir
dazu verhelfen.«
    »Ich habe keine Lust, meine Cousine zu
sehen.«
    »Ach so? Das ist ja ganz was Neues. Sie
hat dein Alter, und die Familie darf man nicht vernachlässigen. Wie auch immer,
du hast nicht herumzumeckern.«
    Er duscht. Ich gehe ins Zimmer meiner
Mutter, ich weiß, wo ihre Tabletten sind. Eine Menge Tabletten, zum Schlafen,
zur Beruhigung. Ich nehme die erstbeste Schachtel und schlucke das Zeug
hinunter. Diese verdammten Dinger werden mich wohl k. o. setzen. Ich schlucke
sie hinunter, schnell, damit ich nicht überrascht werde. Ich kriege sie nur mit
Mühe hinunter. Vielleicht zehn Stück, das müßte genügen; jedenfalls ist die
Schachtel nun leer, ich lasse zwei zurück, zwecks Alibi.
    Ich hoffe, in ein tiefes Koma zu
fallen. Etwas, aus dem man nie wieder erwacht. Ich fühle, wie die Tabletten
mühsam die Speiseröhre hinunterrutschen. Ich habe Schluckauf. Ich hätte Wasser
dazu trinken müssen, aber es ist zu spät. Er ist fertig. Wir fahren los, und
nichts passiert. Auf der Treppe hoffe ich noch. Vielleicht wird es ganz
plötzlich kommen. Ich werde zu Boden fallen, bevor ich aus der Tür trete. Immer
noch nichts. Keine Wirkung. Ich bin dumm, es braucht Zeit, bis es in den Magen
gelangt, bis es sich da auflöst.
    »Na, was ist, kommst du?«
    Er stellt den Motor an und heizt den
Mercedes vor. Mein Hals ist steif wie ein Besenstiel. Auf dem Weg, immer noch
nichts. Ich klammere mich mit beiden Händen an den Sitz, warte darauf,
herunterzufallen. Ohne ihn anzuschauen, sehe ich sein Profil, die fliehende
Stirn, die Nase schmal, spitz wie bei einem Vogel und die Brille mit dem
Metallgestell obendrauf. Er wird es schon merken, wenn ich falle. Er wird es
schon mitkriegen, wenn ich sterbe. Er wird schon sehen, dieser Dreckskerl. Ich
werde ihm schon noch einheizen.
    Auf der Autobahn, ein Schwindelgefühl,
dann im Magen so etwas wie ein Stein, der dort herumrollt. Mir ist schlecht...
verteufelt schlecht, ich habe das Bedürfnis, mich zu übergeben, aber ich fühle
den Tod nicht kommen. Mir scheint, als müßte der Tod den ganzen Körper auf
einen Schlag erfassen. Und der Körper muß schwach, leicht werden und sich im
Raum verflüchtigen. Ich darf mich jetzt nicht übergeben, ich muß sterben, bevor
ich mich übergebe.

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